In Ergänzung auf den für Mai avisierten Beitrag Postponed: Die Passionsspiele hier der Hinweis aus der BR-Presestelle vom 7. April auf das ARD-alpha-retro-Programm vom Freitag, den 10. April 2020 [1] ergänzt durch eigene Beobachtungen und einer abschliessenden und zugleich in die Zukunft blickenden Anmerkung:
alpha-retro: Oberammergau und die Passion
Alle zehn Jahre wird in Oberammergau das "Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus" aufgeführt. 500.000 Besucher aus aller Welt sahen das Laienschauspiel 2010. Nun, 2020, sind die Passionsspiele infolge der Corona-Krise abgesagt. Am Karfreitag, 10. April 2020, ab 20.15 Uhr, ermöglicht ARD-alpha dennoch eine Begegnung mit den Passionsspielen, aber auch mit der Zeitgeschichte der Jahre zwischen 1959 und 1990 – mit "alpha-retro: Oberammergau und die Passion".
1633 wütete die Pest im Dorf. Sollte Oberammergau fortan von ihr verschont bleiben, so versprachen die Einwohner, würden sie regelmäßig ein Spiel von Jesu Leiden aufführen. Wie es heißt, blieben sie verschont. Doch in diesem Jahr sehen sich die Bewohner des Ortes gezwungen, ihr jahrhundertealtes Gelübde zu brechen. Vier historische Dokumentationen befassen sich mit der Geschichte der Passionsspiele und blicken zurück auf vergangene Aufführungen.
Vier historische Dokumentationen am Freitag, 10. April 2020, ab 20.15 Uhr
20.15 Uhr: alpha-retro: Spielerwahl in Oberammergau (1959)
Dokumentation, 1959"Spielerwahl in Oberammergau", Spätsommer 1959: Wer wird im nächsten Jahr, bei der 35. Passion seit 1634, den Christus spielen, wer die Maria, wer Petrus und wer den Judas? Der Film lässt die Anspannung unter den Oberammergauern spüren, schließlich zogen die Passionsspiele auch vor 60 Jahren bereits Hunderttausende Besucher an. Die Dokumentation um 20.15 Uhr fängt die Stimmung unter den Dorfbewohnern ein, von denen die meisten Protagonisten der Passion sein werden – mit Ausnahme verheirateter Frauen und Frauen über 35 Jahre. Das galt bis 1990.
20.35 Uhr: alpha-retro: Oberammergauer Passionsspiele (1960)
Dokumentation, 1960Wie die Spiele im Jahr 1960 das Leben im Dorf bestimmen, ist das Thema der Dokumentation "Oberammergauer Passionsspiele" um 20.35 Uhr. Und es ist wirklich das ganze Dorf – Jung und Alt, Arm und Reich –, das bei diesen Spielen zusammenwirkt; schließlich ist das Ganze auch ein Tourismusmagnet und damit ein weltliches Geschäft. Ein Plakat wirbt für einen "Hausfrauenabend" zum Thema: "Was koche ich für meine Passionsspielgäste?" Es gibt Gymnastik in der Turnhalle, denn die langen Aufführungen können nur mit einer guten Physis durchgestanden werden. Der Film wirft auch einen Blick auf die damalige Aufführung mit der Szene, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt.
20.55 Uhr: alpha-retro: Die ewige Passion (1970)
Dokumentation, 1970In der Dokumentation "Die ewige Passion" um 20.55 Uhr zu den Passionsspielen 1970 kommt zur Sprache, was schon länger diskutiert wurde: Der Jüdische Weltkongress erhebt Einspruch wegen der antisemitischen Inhalte von Teilen des Passionstextes. Der Vatikan fordert die Oberammergauer auf, das Spiel grundlegend zu überarbeiten. Doch das geschieht nicht. Rom entzieht den Passionsspielen daraufhin seine Zustimmung, die Missio Canonica. Der Passionstext muss geändert werden, aber: Würden dann weniger Zuschauer kommen?
1,6 Millionen Bestellungen bei einem nach wie vor "unangreifbaren" Text, der auch weiterhin "Jahrzehnte andauern" solle. Die zwischenzeitlich vorgelegte Bearbeitung sei "nicht gelungen", so der Gemeinderat. Im Gegensatz zu den kritischen Urteilen der Presse entspreche diese Meinung nicht dem Votum der Öffentlichkeit. So der Spielleiter, der in den zwei Jahrzehnten zuvor auch der Jesus-Darsteller gewesen war. Der Text von 1662 selber sei schon ein Amalgam von verschiedenen Vorlagen gewesen. 1770 und 1811 gab es Verbote dieses Spiels. 1860 kommt es dann zu einer neuen, der sogenannten "Daisenberger" Fassung. Die Fassung von Pater Stephan Schaller [2] aus Ettal wird aus angeblich "dramaturgischen Gründen" nicht zur Aufführung gebracht, aber in der TV-Berichterstattung als Alternative vorgestellt und in Beispielen zum Vortrag gebracht.
Die "Missio canonica" als offizieller Auftrag der Kirche zur Verkündigung gilt nur noch für die Kirche und die Schule.
Unglaublich, aber wahr: Zwei Kameraschwenks durch den Gemeinderat zeigen alle Anwesenden. Alles Männer. Anno 1970. Keine Wunder also, wenn das Reglement für die Auswahl der Beteiligten an der Bühnenpräsenz vorschreibt: Ledige Frauen über 35 dürfen nicht (mehr) mitspielen. Auch keine, die verheiratet sind.
Diese Dokumentation zu schauen ist es wert, genau hinzuschauen. Es gibt Zeit für die Worte der vorgeführten Personen. Und für die Wahrnehmung der Bilder. Assistent dieser Produktion war schon für die Produktion: Christian Stückl (?)
21.45 Uhr Dokumentation "Jesus oder Jeschua?" Diskussion der Religionswissenschaftler Ruth und Pinchas Lapide mit Spielleiter Christian Stückl und Dramaturgen Otto Huber.
1990 ist man in Oberammergau bereit, den 100 Jahre lang unveränderten Text doch zu ändern. In der Dokumentation "Jesus oder Jeschua?" um 21.45 Uhr diskutieren die Religionswissenschaftler Ruth und Pinchas Lapide mit dem seinerzeit neuen Spielleiter Christian Stückl und dessen Dramaturgen Otto Huber. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen für die Passagen des Passionstextes, die den Vorwurf einer negativen Darstellung von Juden auf sich zogen. Der Film zeigt in Beispielen, wie der damals erst 28-jährige Regisseur Stückl das Ergebnis dieser Suche in seiner ersten Inszenierung umsetzt. [...]
Dieser letzte Film - zumal auf dem Hintergrund der zuvor gezeigten BR-Produktionen - ist eine Offenbarung. Er zeigt die Er-Öffnung des Dialoges zur Vor-Geschichte über den Tod von Jesus Christus’ und seiner Wiederauferstehung aus dem Blickwinkel zweier jüdischer GesprächspartnerInnen, die vor Ort sind, die mit der Gemeinde reden und den Probenprozess begleiten. Und: Die damit in ihrer eigenständigen Wirkmächtigkeit in Bezug auf das Ergebnis der Aufführung letztendlich mehr erreichen, als es zuvor die Oberen der katholischen Kirche in München vermocht hätten.
Dieses in diesem Film nochmals nachvollziehen zu können, ist von grosser Bedeutung. Und er macht deutlich, dass der zur Vorbereitung einer eigenen Berichterstattung gewählte Ansatz mehr Sinn macht denn je. Weil er in seiner persönlichen Authentizität einen ganz besonderen - und zugleich in das Allgemeine verweisenden Aspekt - herausstellt.
Es ging - und es geht immer noch - um den Versuch, an der eignen Person zu spiegeln, was die besondere Spannweite und Bedeutung dieses Textes ausmacht - und was ihn auch in Zukunft noch als wertvoll und wichtig in Erscheinung treten lassen wird.
Selbst Sohn einer jüdischen Mutter, aber aufgewachsen in der unmittelbarsten Nähe evangelischer Traditionen, spiegelt sich der dem Stück innewohnende Widerspruch zwischen dem Jüdischen und seiner Aneignung durch das Christentum unmittelbar auf der persönlichen Ebene wider - und weist doch zugleich darüber hinaus.
Dieses zum Ausgangspunkt einer eigenen Berichterstattung zu machen birgt die Chance in sich, damit zugleich einen sowohl persönlichen als auch für die Allgemeinheit transparenten Bericht zur Darstellung zu bringen: Jenseits der Klischees der Tradition und doch zugleich eingebunden in der eigenen Lebensgeschichte u n d der Rezeptionsgeschichte dieser Aufführungen.