Treff mit Tabori

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 19. Dezember 2004 um 12 Uhr 09 Minuten

 

Am Samstag, gegen halb elf am Abend, verlasse ich die Redaktion in der Friedrichstrasse. Das Themenheft von "klick.online / Magazin 2006" zur BERLINALE 04 muss noch an diesem Wochenende in Druck gehen. Drei Artikel mussten fertiggestell und gesetzt werden und jener über den unerwarteten Tod dreier Menschen die mir lieb und wichtig waren im Verlauf des einen Jahres 2003, war davon der schwerste gewesen. Am Ende der Schlussredaktion und nach heftigen Strichen hatte ich noch unerwarteten "Zuspruch" von ganz anderer Seite bekommen: wie gut, dass ich diese Striche gemacht habe, so sei jetzt genau jener Platz geschaffen worden für eine bislang noch nicht untergebrachte Anzeige... Ich weiss, dass ohne solche Anzeigen diese Zeitschrift nicht erscheinen und überleben könnte. Und so werden nach dem Einrücken derselben am Schluss nicht nur Textmengen, sondern auch noch die kleinen Abbildungen der drei benannten Personen ersatzlos gelöscht.

Jetzt stehe ich wieder auf der Stasse. Wohin nun zum Nachtmahl? Mir gegenüber steht das "BE", das Theater mit dem Namen Berliner Ensemble, wie eh’ und je. Es ist mehr als 20 Jahre her, dass ich in diesem Hause fast täglich ein- und ausgegangen bin. Jetzt melde ich mich einmal mehr beim Portier an und gehe in die Kantine. Während ich die mir immer noch vertraut erscheinende Tür hinter mir schliesse und noch bevor ich einen weiteren Schritt in das Innere des halb unterirdischen Gehäuses unternommen habe, fällt mein Blick auf die Sitzbank gleich vorne links am Eingang. Dort sitzt, unverkennbar, George! "Georgy Porgy" fährt es mir wie ein Blitz durch Hirn und Seele. Keine Ahnung mehr warum und was Eric Benet damit zu tun hat. [1]
Dort sitzt mein grosser Lehrmeister - und zeitweise in den frühen siebziger Jahren wohl auch mein Freund - George Tabori. Er ist schön zurechgeputzt, schlicht und jetzt mit sauber gestutztem Bart. Immer noch der weisse Schal, der an ihm hängt, ebenso wie die jungen Damen um ihn herum. Ich bleibe stehen wie angewurzelt. Erkennt er mich nicht? Warum nicht? Und so mache ich es heute so, wie damals Ende der 60er Jahre, all die anderen, die etwas von ihm wollten und sich damals an mich gewandt hatten: Ich spreche jene der Damen an, die ihm an nächsten sitzt. Und ich sprech zu ihr, in dem ich ihn begrüsse. Und sie, sie hat offensichtlich diese Rolle inne, die ich ihr angedacht hatte, und sie übersetzt was ich zu George sage, in dem sie meine Worte leicht gekürzt in sein Ohr redet. Meinen Namen nennt sie und die Worte "Berlin-Bukow" und "Pinkville" und "Bremen". Er setzt sich eine runde schwarze Brille auf und spricht in meine Richtung, ohne mich wirklich zu erkennen und er redet davon, dass ihn seine Sehkraft allzu sehr verlassen habe.
Was tun? Ich insitiere nicht weiter und anstatt "nachzukarten" ziehe ich mich zurück. Beim Koch bestelle ich mir ein Essen, zahle und setze mich an den Techniker-Stammtisch, an dem sich neben mir bereits zwei Paare mittleren Alters eingefunden haben, die offensichtlich nicht zum Haus gehören. Nach meinem ersten Schluck Bier fragen sie mich, ob ich denn ein Techniker des Hauses sei. Etwas verduzt, zumal über meine Antwort, erkläre ich mich zum Gast des Hauses, der sich selber nach vielen Jahren wieder eingelanden habe. Und sie sind’s zufrieden.
Kurz danach und George steht als erster auf und nach ihm auch die Damen und auch ein junger Mann, alle halt, die um ihn herum gesessen haben. Er legt sich seinen Schal und Mantel an. Noch bevor sie sich auf den Weg macht um die Kantine zu verlassen, habe ich mich von meinem Essen erhoben, bin durch den Raum geschritten und überreiche meiner Ansprechpartnerin von vorhin meine Karte, bleibe aber nicht länger, sondern gehe wieder an meinen "Techniker-Tisch" zurück und zu meinem Essen. Es gibt Wirsing mit Gehacktem und gekochten Kartoffeln.

Zuhause wieder angekommen, sehe ich mir in der Nacht noch im Fernsehen auf 3sat die "Kulturzeit" vom ORF an. Herr Peymann wird stehend vor der Kamera nach seiner Arbeit am Berliner Ensemble befragt. Er verteidigt seine Arbeit und meint, dass Inszenieren immer auch bedeute, bis an die Grenzen zu gehen: und sei es, dass man die Schauspieler schlagen müsse. Ja, manchen bräuchten das, ja wollten das geradezu, da sie nur so zu jener Leistung getrieben werden könnten, die ihnen selber innewohne. [2] Ich überdenke nochmals jenen nun nicht mehr veränderbaren Satz aus dem schwersten meiner Artikel, in dem ich einfliessen liess, warum ich mich als Fassbinders Assistent letztendlich von ihm abgewandt hatte: zu jenem Zeitpunkt nämlich, als er begonnen hatte, die Art seiner Regieführung für das Filmemachen zu entdecken und damit zu verbinden. Peymanns Satz ist mit Fassbinders Haltung, so wie ich sie damals erlebt hatte, durchaus verwandt. Solange das Ziel eine Theateraufführung war, galt immer noch das gemeinsame Einverständnis, die Arbeit gemeinsam soweit voranzutreiben, dass man sich als Schauspieler in der für die Bühne gewonnenen Figur an jedem Abend einer Aufführung erneut wieder einfinden kann, für sich selbst und in der Koordination mit den Anderen. Vor der Kamera dagegen galt es, aus jeder Person und jedem Moment ein einziges Mal das Maximum des Möglichen herauszupressen. Einmal "im Kasten", konnte dieses "einmalige" Resultat beliebig oft wiederholt werden, aber auch bearbeitet, beschnitten, ja: korrigiert werden, ohne dass es dazu noch der tätigen Mitarbeit des Schauspielers bedurft hätte. Diese Entdeckung und der für ihn vorteilhaften Nutzung der neuen medialen Möglichkeiten sollte für Fassbinder das Ende seiner Theaterarbeit bedeuten. Das war mir vielleicht damals schon früher klar als ihm selber - und Grund genug, zu gehen.

Eben das aber war viele Jahre später der Grund, meinem Freund Hanno Baethe beim Drehbuch seines Filmes über den sterbenden Kurt Raab zur Seite gestanden zu haben. Ein Film wie dieser gehört meiner Meinung nach auch heute noch als "add on" zu jeder Fassbinder-Film-Retrospektive. Womit wir schon wieder bei einem anderen Thema wären.

Good Bye, George!

Anmerkungen

[1 "Georgy Porgy"
(feat. Faith Evans)
It’s not your situation
I just need contemplation
Over you
I’m not so systematic

It’s just that I’m an addict for your love
I’m not the only one that holds you
I never ever should have told you
You’re my only girl
I’m not the only one that holds you
I never ever should have told you

You’re my only world
Georgy Porgy puddin’ pie
Kissed the girls and made them cry
Georgy Porgy puddin’ pie
Kissed the girls and made them cry
Georgy Porgy puddin’ pie
Kissed the girls and made them cry

Kissed the girls and made them cry
Kissed the girls and made them cry

Just think how long I’ve known ya’
It’s wrong for me to own ya’
Lock and key
It’s really not confusion
I’m just the young illusion
Can’t you see

I’m not the only one that holds you
I never ever should have told you
You’re my only girl

I’m not the only one that holds you
I never ever should have told you
You’re my only world

Georgy Porgy puddin’ pie
Kissed the girls and made them cry
Georgy Porgy puddin’ pie
Kissed the girls and made them cry
Georgy Porgy puddin’ pie
Kissed the girls and made them cry

Kissed the girls and made them cry
Kissed the girls and made them cry

[2Peter Weibel hat in dem von ihm im Rahmen der Grazer Ausstellung in der Neuen Galerie 2003 mit herausgegebenen Buch "M_ARS. Kunst und Krieg" eine Kompilation von Texten von Bazon Brock erstellt, die er seinem Werk "Der Barbar als Kulturheld" - erschienen 2002 in DuMont in Köln - entnommen hat. Darin schreibt Brock: "Der Liebling der deutschen Theaterkritik, Claus Peymann, hielt sich zugute, eine junge Schauspielerin derart martialisch über den Boden geschrubbt zu haben, dass sie in psychischem Schmerz und seelischer Empörung gegen den barbarischen Regisseur einen Satz von Shakespeare so ausgesprochen habe, wie noch nie eine Darstellerin zuvor."
S. 238, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit, 2003


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