IFA 2020: Im Rückblick auf Genese und Verlauf dieser sogenannten Special Edition sind in diesem Jahr u.a. schon diese Artikel entstanden [1]:
Am 5. September 2020: IFA 2020 Day III
Am 4. September 2020: IFA 2020 Day II
Am 3. September 2020: IFA 2020 Day I
Am 2. September 2020: gfu Insights & Trends 2020
Am 1. September 2020: IFA 2020: Was bisher geschah
Am 19. Mai 2020: IFA Press Conf. Follow-up
Auch der hier nachfolgende Text vom Morgen des zweiten IFA-Tages. Aber die bisherigen Reaktionen zeigten ein so breites und über das Messeereignis selbst hinausgehendes Interesse, dass er aus dieser Seite ausgekoppelt und hier als Nachklapp zum bisherigen Geschehen und als perspektivische Analyse nunmehr davon getrennt an dieser Stelle veröffentlicht wird [2].
O.
Nein, dieser nachfolgende Text wird nicht mit „IFA Quo Vadis?“ überschreiben, obwohl dem Autor die Zukunft und Perspektiven dieser Veranstaltung mehr denn je am Herzen liegen. Denn dafür hat die Beschäftigung mit diesem Event schon zu lange, viele Jahrzehnte, angedauert – und dafür sind die aktuellen Eindrücke, die in Anlass geben für diesen unmittelbar nach dem Ende der Veranstaltung des Jahre 2020 verfassten Text noch zu frisch. Aber das Erlebte jetzt einfach so ad actalegen zu wollen, das geht auch nicht: Und viel von dem in diesen letzten Tagen Erlebten lässt sich spiegeln mit Bezug auf andere Messeereignisse, die nicht nur als Besucher erlebt, sondern auch als Changineer mitgestaltet wurden, insbesondere in Hannover, Washington, Las Vegas. Lisboa und Shanghai.
1.
Die Teilnahme an der diesjährigen Veranstaltung war durch eine Einladung als Pressevertreter legitimiert - und privilegiert, da das diesjährige Format nur eine sehr kleine Gruppe von Ausstellern wie TeilnehmerInnen überhaupt zuließ. Auch wenn dieser Vorteil eigentlich nur aus zwei Anlässen wahrgenommen wurde, am Tag vor Messebeginn auf Einladung der gfu und am letzten Messetag.
Alles Andere wurde am Rechner an mehreren Monitoren und Lautsprechern verfolgt. Sobald die Nachricht angekommen war, dass man sich nicht nur als Presse anzumelden habe, sondern auch als Teilnehmer an einer eigenen für dieses Event aufgestellten online-Plattform. Und diese, so haben die Presseberichte Anderer eindeutig proklamiert, würde nicht nur den Fachbesuchern, sondern jeder und jedem weltweit zur Verfügung stehen.
2.
Merke: Die einst hochgezogenen Mauern zwischen den Presseleuten, die an irgendeinen besonderen Ort ihrer Wünsche eingeflogen und dort "betankt" wurden und jenen Multiplikatoren, die sich durch ihr Interesse an einer Marke, seinen Angeboten und Versprechungen auszeichnen, waren mit diesem Angebot eingebrochen.
Ausser, dass – theoretisch – im Anschluss an diese „Pressekonferenz“ genannten Veranstaltungen auch noch Fragen hätten gestellt werden können. Was, soweit die eigene Beobachtung nicht getäuscht hat, nur am dritten Tag ein einzige Mal stattgefunden hat.
Wie schon an anderer Stelle beschrieben: aus den Presse-Konferenzen sind längst Product-Shows geworden, an deren Ende eher Applaus erwartet wird als weitere Fragen. Oder, bestenfalls, beides.
3.
Diese Entwicklung ist nicht neu. Die Landschaft der Gatekeeper der Kommunikation hat sich gründlich und nachhaltig gewandelt. Und dass der einzig - neben der Deutschen Welle und N24 - noch verbleibende publizistische Anbieter mit seinen Video-Streaming-Programmen auf allen Monitoren der Media-Märkte präsent ist, ist mehr als nur folgerichtig.
Aber, so die Frage, ist damit nicht schon ein Ansatz dessen in Sicht, was eine Publikums-Fach-Messe (in) der Zukunft noch wird leisten können? Oder markiert dieses Jahr den Anfang des Endes einer Publikums-Messe, auch wenn sie in den letzten Jahren immer noch mit einem letztendlich veralteten Konzept am Leben erhalten werden konnte?
Das Thema ist in diesen Tagen in Berlin so wie aktuell wie andernorts bei den Film-Festspielen in Venedig: Dort feiert man sich und seine Tradition(en), wohl wissend um all die gierigen Geier aus der IP-Welt, die sich längst mit ihren Bildschirmangeboten immer mehr gegenüber den Leinwandbesitzern in Position gebracht haben. Und zwar, wie die Kinos auch, mit Bezahl-Angeboten. Und das mit eben all jenen Gadgets wie sie exemplarisch - zum Beispiel am 2. IFA-Tag auf einer der PKs durch den realme 55’ "Cinematic Display TV" – präsentiert wurden.
4.
Wenn wir heute noch einmal absichtlich von den vielleicht inzwischen überkommenen Begriffen einer „braunen“ und einer "weißen" Ware sprechen, ist inzwischen der Grad der Vernetzung der Geräte so weit fortgeschritten, dass sich inzwischen eine weitere, eine dritte Kategorie hinzugesellt hat: Eine Kategorie, die die bisherigen über Generationen gewachsenen Begrifflichkeiten in ihrer traditionellen Bedeutung endgültig aus den Angeln zu heben beginnt.
Diese dritte Kategorie ist die der "virtuellen" Ware. Dass es sie gibt, ist inzwischen allerorten deutlich, auch wenn sie nach wie vor immer noch im Gewand einer wie auch immer gearteten Hardware in Erscheinung treten mag, wie zum Beispiel hier bei der Pressekonferenz der BSH-Gruppe zu erleben und zu sehen war:
Wie stark inzwischen die Digitalisierung auch im heimischen Umfeld fröhliche Urstände feiert, wird vielen erst jetzt wirklich bewusst, als es in diesem Jahr 2020 urplötzlich darum ging, diese Entwicklung nochmals mit einem dicken Schub voranzutreiben: Zu der "weißen" Ware, den home-appliances und der "braunen" Ware, dem home-entertainment, ist nun mit aller Gewalt einer virtuellen Präsenz - in der Gestalt des Laptops und des Tablets, des Druckers und des NAS - die Welt der Arbeit und des Lernens in digitaler Form mit in die häusliche Umgebung eingedrungen.
5.
Und das, in vielen Fällen zumindest zu Anfang, gegen den eigenen Willen. Die braune Ware war gut, wenn die Welt für einen selbst endlich wieder einmal gut sein sollte, jenseits aller beruflichen Belastungen und Verpflichtungen. Die weiße Ware dagegen war not-wendig für die Bewältigung dessen, was dennoch an häuslichen Verpflichtungen unaufschiebbar war und bleibt (und womit sich - nach wie vor – zumeist die Frauen zu beschäftigen hatten, da es zunächst immer noch an ihnen zu liegen schien, dass sie sich "mit dem bisschen Haushalt" auseinandersetzen, der sich doch jetzt Dank der vielen neuen Geräte wie "von alleine" machen lässt...)
Das Bemühen, die weiße Ware in die IFA-Welt der braunen Ware zu integrieren, war nicht nur von wichtigen ökonomischen Rahmenbedingungen diktiert, die die Messeveranstalter bei ihrer Strategie für den Fortbestand ihrer Shows zu berücksichtigen hatten: Es signalisiert zugleich den Versuch, all das, was mit Arbeit zu tun hat, immer mehr mit dem Hautgout des sinnlichen Vergnügens auszustatten, uns mit einem Miele-Sprech wie "rediscover the joy of cooking" selbst die Arbeit in der Küche in einem nunmehr verdoppelten Sinne schmackhaft zu machen.
Auch wenn dieses Bemühen viele neue Kräfte und Fantasien freigesetzt hat, der Grundwiderspruch, der der "braunen" und der "weißen" Welt innewohnt, lässt sich damit nicht aufheben. Das Ziel der weißen Welt war - und ist es immer noch - Zeit zu gewinnen, die Absicht, die mit der braunen Welt verbunden wird, ist die, sich den finanzierbaren Luxus erlauben zu können, Zeit verlieren zu dürfen, ja, sich in der elektronisch bespielten Frei-Zeit ganz und gar verlieren zu können.
6.
Diese neuen und neuartigen Spannungs- und Beziehungsfelder zwischen "brauner", "weißer" und "virtueller" Ware war bis zum Anbruch dieses neuen Jahrzehnts noch kaum wirklich erfasst, begriffen, geschweige denn, in neuen Konzepten umgesetzt worden. Wenn auch in diesem Jahr einmal mehr davon gesprochen und demonstriert wird, dass nun Waschmaschine und Wäschetrockner miteinander Kommunizieren können und dass man gelernt habe, über diese neuen Möglichkeiten nun auch mit seiner potenziellen Käufergruppe in den sozialen Netzen zu kommunizieren, ist damit noch lange nicht die Dimension des Wertes der „virtuellen“ Ware erfasst, durchschritten und in neuen operativen Designs ausgeführt worden.
Wie wichtig es aber sein wird, sich schleunigst mit dieser immer noch eher abstrakt klingenden Materien auseinanderzusetzen, das machte zuletzt die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs der CeBIT in aller Deutlichkeit wie auf einer Blaupause klar: Auch da hatte man sich zu lange an den Erfolg der Besucherströme und mit immer neuen Hallenbauten an diese Entwicklung gewöhnt und war nicht bereit zu sehen, zu verstehen und anzuerkennen, dass auch in der EDV die Miniaturisierung bis hin zu deren Virtualisierung das bisherige Erfolgsrezept in sein eigenes Gegenteil verkehren könnte.
7.
Hier und heute geht es darum, dass einerseits die IFA-Verantwortlichen gerne auf die historische Bedeutung dieser Veranstaltung verweisen, dass es ihnen aber - selber eingebunden in den Prozess und dem Versuch, die Geschichte ihres Tuns weiterschreiben zu wollen - aus ebendiesem Grunde schwerfällt, ja vielleicht sogar unmöglich ist, noch rechtzeitig aus dem sich immer mehr erhitzenden Wasser zu springen, bevor sie von dessen immer weiter zunehmender Hitze verbrüht werden.
Dass man die bisherige Erfolgsgeschichte in diesem Jahr nicht noch weiter habe fortschreiben können, dann sei das in erster Linie der weltweiten Pandemie zuzuschreiben, die auch sie als Veranstalter voll und ganz erfasst habe.
Umso wichtiger wird es sein, ersatzweise eine andere Erfolgsgeschichte als Narrativ dieser Tage zu verkaufen: Dass es gelungen sei, sich auch von dieser Entwicklung nicht in die Knie zwingen zu lassen und mit dem Leitsatz Tech is back die Souveränität der von den Menschen gestalteten und dem Menschen nutzbringenden Technologien über die Natur zu feiern.
8.
Um diesen in der Tat recht komplexen Zusammenhang versuchsweise in diesen wenigen Worten zu fixieren, wäre zu sagen: Da voraussichtlich auch die diesjährige IFA als ein "Erfolg" beschrieben werden wird, dann deshalb, weil sie wieder an Werten und Verhaltensweisen anzuknüpfen versucht, deren Bedeutung sich erst jetzt immer mehr das herausschälen, was schon zuvor wichtig und wertig gewesen war.
Merke: Aber eben genau damit läuft sie Gefahr, in diesem so skizzierten Ausweg einen Weg erkennen zu glauben, der sie letztendlich in die Sackgasse führen wird: In diesem Jahr können die wirtschaftlichen Verluste noch mit dem Hinweis aufgefangen werden, dass es gelungen sei, ein Zeichen für die eigene Zukunft und die Zukunft der Branche zu setzen. Aber in Zukunft?
Selbst dann, wenn es gelingen sollte, im Folgejahr 2021 wieder ein pickepackevolles Messegelände mit noch mehr Aussteller und noch mehr Themen an den Start zu bringen ist damit in keinster Weise ein neuer Grundstein für eine neue IFA gelegt.
Die Nachricht, dass die IFA auch dieses Jahr mit diesem neuen Hybrid-Konzept überlebt und sich als Vorbild für viele andere Messeveranstalter einen ganz besonderen Namen gemacht habe, hebt nicht die Thesen auf wie jene, dass diese Veranstaltung ihren Höhepunkt längst hinter sich, ihre Mission längst überlebt, ihr Lauf-Publikum längst verloren habe, und dass sich auch diese Leitmesse noch im Verlauf dieses Jahrzehnt von einer Leit- in eine Leid-Messe verwandeln könne. Auch ohne Corona 2.0.
9.
Hinweise, dass man nun keine Funk- sondern eine Innovations-Schau sei, werden auf Dauern nicht einmal das Geld ihres Marketingbudgets wert sein. Auch die Ausweitung auf neue Produktgruppen – das Auto, um nach Hause zu fahren und eben diesem zuhause wieder entfliehen zu können oder so was wie Drohnen, um endlich für sich selbst die Illusion technisch umzusetzen, einen Überblick über seine Um-Welt erhalten zu können – allein wird es auch nicht bringen.
Vielmehr wird es not-wendig sein, sich im Nachgang zu dieser Veranstaltung nicht nur schonungslos mit all den aktuell festgestellten Fehlern und Fehlstellen auseinanderzusetzen, sondern es wird not-wendig sein zu verstehen zu wollen, was diese Neue Welt einer „virtuellen“ Ware schon jetzt ausmacht – und in Zukunft erst recht ausmachen wird.
In der analogen Welt konnte diese Frage nach der treibenden Kraft für den Verkauf neuer Geräte im Sektor der „weißen“ Ware mit dem allerseits beliebte Spruch beantwortet werden: „Content is King“.
Jetzt im Verlauf der zunehmenden Digitalisierung wird nunmehr auch schon lange nicht mehr von Inhalten, sondern von sogenanntem „Content“ gesprochen. Die Zahl der noch auf der IFA vertretenen sogenannten „Content-Provider“ ist mehr und mehr rückläufig , die Generierung und die Generation von und für „user generated content“ wächst überproportional. Aber die daraus sich ableitenden Folgen für eine Publikumsmesse, sich dieser neuen Herausforderung stellen würde, zeichnen sich überhaupt noch nicht ab.
Warum, um so ein grosses Thema mit dieser einen Frage als pars pro toto zu illustrieren: Warum wurde gerade in diesem Jahr für diese besondere IFA nicht zumindest jenes Programm aus der traditionellen Welt der Broadcastmedien an- und eingeworben, dass in Form und Inhalt den aktuell anstehen Themen am nächsten steht: gemeint ist https://www.funk.net/
10.
Wir haben diese Text mit dem Verweis auf die nicht verwendete Überschrift „IFA quo vadis?“ begonnen. Und verweisen an dessen Ende an den eben nicht end-gültigen Aufruf Brechts: „Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach. / Sie selber dächten auf der Stelle nach / Auf welche Weis dem guten Menschen man / Zu einem guten Ende helfen kann.“
Anders als auf der Bühne kann es auf der IFA-tech-stage auch auf Dauer kein gutes Ende geben, nur ein schlechtes. Gut wäre es, immer weiter vorankommen zu wollen. Aber das kann ihr nicht gelingen, wenn sie wie der kleine Häwelmann dem Mond immer näher kommen möchte, oder wie Ikarus so hoch hinaus, dass die Sonne die Flügel schmelzen lässt. Sondern wenn die Macher mit / trotz dem ihr innewohnenden Vertrauen in die Technik irgendwann begreifen würden, was uns diese Pandemie zu lehren vermocht hat: Nicht nur Abstand halten, sondern die Kräfte in den virtuellen Umgebungen so gut zum Bestandteil unseres Er-Lebens machen zu können, dass sie uns wie Mond und Sonne zu unseren all-täglichen wohlgelittenen BegleiterInnen werden.
Die virtuelle Immersion ist längst Realität. Die Spuren unserer Persönlichkeit sind längst zu digitalen Clustern geworden, mit jedem Netzklick noch besser eingefangen in weltweit vernetzten Rechenzentren. Und von diesen aus für die Zukunft noch besser ausgestattet mit alledem, was uns das Leben als noch besser erscheinen lassen soll, als je zuvor.
Kann das das Ziel einer „Innovations“-Messe sein?
WS.