Vorwort
Ab dem 24. November 2017 ist auf den Online-Seiten der WirtschaftsWoche diese als Beitrag verkleidete Anzeige der Deutschen Bahn zu lesen: "Komfortable Nutzzeit im Zug Berlin – München:"
Bereits lange vor dieser Anzeige gab es eigene Bemühungen, aus Anlass der Buchung dieser Strecke aus dem Zug eine eigene Geschichte aus Nutzersicht zu verfassen. Die DB-Anfrage an die Pressestelle, die nun auch einen eigenen Ansprechpartner für digitalen Medien und Blogs hat, auf dieser Fahrt zu diesem Thema auch Audio-Interviews mit den Mitreisenden zu machen, wurde aber abschlägig beschieden.
Darauf fiel die Entscheidung, auch dem ersten Teil der Strecke von Berlin nach München auf den ganzen Rummel rund um die Eröffnung zu verzichten und auf eigene Faust und eigene Rechnung zu reisen. Und einfach aufzuschreiben, was so passiert. Ganz ohne Passion. Und ganz ohne weitere Absichten, etwas ganz Besonderes aufschreiben zu wollen.
Aus Anlass der heutigen offiziellen Einweihungsfeierlichkeiten der Strecke in Erfurt (um 12:30 Uhr) und Berlin (ab 16:30 Uhr), fragt Ambros Weibel - in München geboren, Redakteur in Berlin - in der taz dieses Tages: "Werde ich die langen Stunden auf der alten Bahnstrecke vermissen?"
Und im sogenannten Zugreiseblog ist in einem Text von DAVID vom 29. November 2017 zu lesen: "Die Deutsche Bahn will mit der neuen schnellen Strecke zwischen Berlin und München ihren heutigen Marktanteil auf 40 Prozent mehr als verdoppeln. Damit würden künftig auf dieser Relation auch mehr Menschen mit dem Zug fahren als fliegen."
Machen wir also den Selbstversuch. Und schreiben einfach auf, was auf diesem beiden Strecken passiert. Heute noch auf der alten, am Sonntag dann erstmals auf der Neuen.
Im ICE 1515
0.
Mit dem ICE 1515 ab Berlin Hauptbahnhof - ehemals Lehrter Bahnhof - nach München Hbf. [1]
Einen solchen Bericht zu schreiben, ist ungewöhnlich, gerade weil diese Strecke bereits seit vielen Jahren immer wieder in beiden Richtungen gefahren wird. Und das im Schnitt ein- oder mehrmals im Monat. Dabei haben immer weniger die Beobachtungen der Umgebungen im Vordergrund gestanden, sondern die für diese Zeit schon vorbereitete Arbeiten, die in dieser Zeit verrichtet werden kann.
Denn all das, was inzwischen auch die Bahn-Werbung herausstellt, vor allem der Hinweis, dass die Zeit im Zug auch echte Nutzzeit sein kann, ist wahr: Vorausgesetzt, Du hast eine Reservierung, möglichst einen Tischplatz. Und bestenfalls einen in unmittelbarer Nähe zur ersten Klasse, um an diesem Platz nicht nur vom W-LAN-Angebot zu profitieren, sondern auch von der unbegrenzten Datenmenge, die zu nutzen den Passagieren in der ersten Klasse vorbehalten ist.
1.
Auch wenn man sich daran gewöhnt haben mag: Es ist auch nach Jahren des Regelbetriebes immer noch nicht möglich, dass die Wagenreihung dem auf dem im Bahnhof ausgehängten Plan entspricht. So auch an diesem Tag. Der Bahnsteig ist rappelvoll. Es ist Freitagnachmittag. Und: Der Zug von Berlin nach Leipzig, der vor diesem hätte fahren sollen, ist ausgefallen. Aber keiner auf diesem langen Bahnsteig weiss jetzt, wo er/sie sich nun aufstellen soll um in der Nähe des vorreservierten Waggons einsteigen zu können.
Es gibt zwar eine Anzeige, die von der veränderten Wagenreihung Meldung macht. Aber wie diese nun sein wird, davon kündet erst kurz vor Einfahrt des Zuges eine Lautsprecherstimme, die nur schwer zu verstehen ist. In der Wiederholung der zunächst in Deutsch ausgerufenen Nachricht in englischer Sprache unterschlägt dann diese zuvor auf deutsch übermittelte Zahlen.
Als der Zug eintrifft, ist die Bewegung auf dem Bahnsteig wahrlich heftig und hektisch. Und auch im Waggon dann das übliche Gedränge. Fast alle Sitze sind reserviert. Der Vorteil daran ist, dass der „eigene“ –Sitzplatz, am Tisch, noch frei ist. Und der Stromanschluss funktioniert. Und der Internet-Zugang auch.
Damit können die Notate zu dieser Bahnfahrt beginnen.
2.
Der Zug fährt wirklich – fast – pünktlich ab. Zu eben jenem Zeitpunkt, als der Zug aus Erfurt mit allen den Ehrengästen von der Eröffnungsfahrt nach Berlin eintreffen sollte. Das Festzelt ist aufgebaut. Und – soweit in der schon eingebrochenen Dunkelheit zu sehen – alles auf den Empfang vorbereitet.
Dennoch die Entscheidung, nicht diesem Spektakel beizuwohnen, sondern in einem ganz normalen Zug und einem ganz normalen Ticket nochmals diese inzwischen ganz normal gewordene Strecke ein letztes Mal abzufahren. Denn auf einem solchen Festakt hätte es bei einem Verbleib kaum Ereignisse oder Erkenntnisse gegeben, die nicht so gut vorbereitet und vorkonfiguriert worden wären, als dass sie noch irgendwelche Einsichten besonderer Art versprechen würden, die nicht auf dem Kommunikationsplan des Konzerns stünden.
Dafür als das klassische Beispiel der "tagesschau"-Beitrag von Ole Hilgert vom MDR:
Dass diese Entscheidung noch einen weiteren, ganz unvorhergesehenen Vorteil haben würde, dazu ein zweiter "tagesschau"-Beitrag am Ende dieses Textes als "P.S."-Eintrag.
3.
Im Waggon ist inzwischen Ruhe eingekehrt, die alten Leute klagen nicht mehr über ihr Herz, das bei der ganzen Rennerei so beansprucht worden wäre, die Jungen haben schon längst ihre Kopfhörer auf und sind damit auch nicht mehr zu hören. Der nebenan bis Leipzig reservierte Sitz ist frei geblieben. Und die Schaffner kommen heute sogar im Duett durch.
Draussen wird es zunehmend dunkler – und wahrscheinlich auch kälter. Die Fahrtgeräusche sind nicht einmal mehr so laut wie das Rascheln des Brotpapiers, in dem das nun nebenan geöffnete Proviant des Nachbarn bislang verborgen war, und irgendwo singt ein Kind seine Lieder. Das Alles nur noch gelegentlich unterbrochen von den Durchsagen des Zugpersonals.
Es stellt sich, nach und nach, so eine Art von hidden community feeling ein. Keiner kennt den Anderen, und doch gibt es so was wie eine, im wahrsten Sinne des Wortes, stillschweigende Rücksichtnahme.
Eine Gefühl, eine Stimmung, ein Zustand, der sich nach den eigenen Erfahrungen in der zweiten Klasse in einem noch höher verdichtetem Masse herstellt, als in der Ersten. Wirklich genau beschreiben lässt sich dieser besondere travel mode nicht. Und doch, so unbestimmt er ist, bestimmt er die eigene Stimmung in dieser Umgebung mit.
4.
Ankunft in Leipzig um 17:48 Uhr. Im Plan angezeigt wird 17:43 Uhr. Es gibt Bewegung im Zug. Am Tisch wird ein weiterer Platz frei. Am Tisch gegenüber werden gleich mehrere Plätze frei. Es verblieben bis dahin nur noch eine Dame mit Hut und ein junger Mann, der mit seinem Sprechbesteck am Ohr und um den Hals fast ununterbrochen telefoniert. Über die deutlich vernehmbaren Inhalte des Gespräch schweigt des Schreibers Höflichkeit an dieser Stelle… Kurzum: alles ist eigentlich so wie immer, nur dass es dieses Mal nochmals an dieser Stelle aufgezeichnet wird.
Leipzig. Bis zum Ende dieses Jahres mit dem Mitteldeutschen Rundfunk, MDR, noch die politische Hauptstadt der ARD. Von der in diesem Moment im Netz auch ein ganzer Thementag zur Eröffnung der VDE-8-Trasse zu finden ist. Mit (Bewegt-) Bildern, Tönen UND (noch mit) Texten.
Jetzt aber steht ein Fahrrichtungswechsel bevor. Dieser Bahnhof ist ein Kopfbahnhof. Und der Richtungswechsel betrifft nicht nur die Wagenreihenfolge, in der nun die letzten Wagen die ersten sein werden, er betrifft auch den Übergang der ARD-Repräsentanz vom MDR zum Bayerischen Rundfunk, BR.
Der steht am Ende dieser Reise gleich neben dem Bahnhof in München. Und macht aber schon genau an diesem Tag und zu dieser Stunden von sich reden: Der Herr Intendant kassiert den Frequenz-und Systemwechsel der Sender PULS und BR Klassik. Womit er sicherlich bei seinen Verleger-Freunden gut ankommen wird, in seinem "eigenen" Haus wahrscheinlich aber eher nicht. Dort lässt er nach Haus-Herren-Art ausrichten, wie in Zukunft re(a)giert werden wird.
Und auch die leitende Frau aus dem MDR wird nun vorzeitig gewahr, dass selbst sie nun wieder in die die zweite Reihe wird zurücktreten müssen.
5.
Wir verlassen Leipzig. Und bleiben noch auf den seit Jahr und Tag befahrenen Geleisen: über Naumburg (Saale), Jena Paradies, Lichtenfels, Bamberg, Erlangen, Nürnberg, Ingolstadt und dann bis München. Auf der Rückfahrt wird Leipzig kein Haltepunkt mehr sein. So wie es der Berliner Kurier schon am 11. September 2017 berichtet hatte: Berlin-München in 4 Stunden Fahrplan für neuen ICE-Sprinter: Kein Stopp in Leipzig! . Leipzig ist „out“, Erfurt in Zu(g)kunft „in“.
Der Nachbarplatz ist frei geblieben und erlaubt nun, das eigene mitgebrachte Essen und Getränk auszupacken. Am Tisch gegenüber hat nun eine ganze Gruppe Platz genommen, die – wie eindeutig zu hören ist – bis München fahren wird. „Uns geht’s guot. Ich hab mei Braatwurscht krieagt“, sagt die Frau in der Gruppe. Während einer der Männer inzwischen sein Mobiltelefon in Betrieb setzt, um den Heimgebliebenen zu berichten, dass sie nun wieder auf dem Weg „hoam“ seien.
6.
Eigentlich wird es jetzt Zeit, mal eine (Schreib-)Pause zu machen. Der Blick aus dem Fenster zeigt, dass es draussen offensichtlich regnet: Das gelbe Licht der Natriumdampflampen spiegelt sich in auf den von diesen erleuchteten Asphaltflächen.
Kurz vor Naumburg wird sogar aus dem Bordrestaurant Kaffee gereicht. Der gerne – auch für den Preis von drei Euro – angenommen wird: Bis zu dem Moment, als nach dem Abheben des Deckels von dem Pappbecher zu sehen ist, dass dieser nur zur Hälfte, und das auch nur knapp – gefüllt worden ist.
Die bisher noch freien Plätze am Tisch werden nun von einem jungen Paar besetzt. Das erste, was sie auch der Tasche ziehen, sind ihre beiden Smartphones. Das zweite, ihre Ess-Sachen. Dann werden die beiden Geräte in das W-LAN der Bahn eingehängt und aktiviert, während die zweite Hand bereits jeweils ein belegtes Baguette in der Hand hält.
„Zugestiegen irgend jemand…Grüss Gott...“ Ein neuer Schaffner, sorry, „Zugbegleiter“, ist nun zugestiegen und überprüft die Tickets der anderen neu Zugestiegenen. Seine schnarrende, aber damit durchdringende Stimme ist gut zu hören und alle Fahrgäste haben ihn schon vernommen, bevor er an ihrem Platz einen Moment verweilt.
7.
Wir sind in Jena Paradies. Auf dem „Paradiesbahnhof“ wie dieser einstige „Betriebshalt“ nach dem gleichnamigen in der Nachbarschaft liegenden Park am Saaleufer genannt wird.
Schon der ZEIT vom 16./17. Juli 2015 hatte Niclas Seydack in der Überschrift zu seinem Artikel gefragt: „Jena. Macht die Bahn hier bald das Licht aus?“ . Und jetzt ist es soweit. Auf dem erst 2005 für über 20 Mio Euro fertig gestellten Bahnhof werden im „München der neuen Länder“ in Zukunft keine ICE-Züge mehr halten.
Die letzte direkte Verbindung ist morgen, Samstag-Abend der ICE 1517, der Jena Paradies um 20:51 verlässt und dann am Hauptbahnhof in München um O:48 Uhr ankommt.
Dann wird das Protokollschreiben endlich mal für einen längeren „Moment“ unterbrochen. Auch wenn die nun befahrene Strecke heute das letzte Mal befahren wird. Es warten noch andere Aufgaben auf den Autor, die ebenfalls vor dem Eintreffen in München fertiggestellt werden sollten.
8.
Aufmerken bei der Ansage: ,, ... in wenige Minuten erreichen wir – viel zu früh – den Bahnhof in Lichtenfels.“ In der Tat, die Ankunft ist für 20:26 im Plan. Eintreffen tun wir 10 Minuten zu früh. Welch eine Überraschung – und welch ein besonderes Geschenk für die Raucher, die sich bislang auf dieser Strecke haben im Zug zurückhalten müssen und nun auf dem Bahnsteig ihr Laster frönen können.
Als sich der Zug wieder in Bewegung setzt, wird der gegenüberliegende Platz frei. Der Mitfahrer hat einen anderen freien Tisch gefunden. Und für den Autor gibt es von nun an ein neues Mass an Beinfreiheit.
In Nürnberg wird der Zug nochmals wieder richtig voll. Aber der gegenüberliegende Platz bleibt frei. Und so gibt es weiterhin Platz für die Beine und die Möglichkeit, auch die Seele etwas baumeln lassen zu können.
Die vielen Tunnelteile auf dieser Strecke schlagen immer wieder auf die Ohren, die auf den Druckanstieg bei der Durchfahrt entsprechend reagieren. Aber auch diese „Unpässlichkeiten“ bleiben im Rahmen harmlos und die Reise nimmt ihren Lauf.
Ingolstadt wird angefahren und von dort wieder abgefahren. Alles fährt weiter seinen Weg.
Es ist so, wie es sich schon zu Beginn angekündigt hatte, es ist eine ganz normale Reise mit einem ganz normalen Publikum und einem letztendlich ganz normalen Verlauf.
9.
Kurz vor München dann nochmals diese Frage: War diese Fahrzeit nun Nutz-Zeit?
Nun ja, wenn man jetzt diesen Text am Ende dieser Strecke vorfindet, lautet die Antwort „Ja“. Wenn die Frage lautete, ob dieser Text irgend jemanden wirklich etwas nützen wird, ist die Antwort voraussichtlich eher ein „Nein“. Es sei denn, er wird gelesen, um jemanden die Zeit vertrieben, der oder die auch gerade im Zug sitzt und keinen Bock hatte, was Eigenes zu schreiben.
10.
Der Zug trifft (fast) pünktlich in München ein.
Nachwort
in dem mdr-Schwerpunkt-Thema zur Eröffnung der neuen Bahnstrecke noch nicht mit eingebunden ist dieser Bericht:
CE-Trasse München-Berlin Sonderzug mit Panne auf neuer Schnellstrecke. Dort ist unter anderem zu lesen:
An Bord des ICE 4 waren rund 200 Ehrengäste und Journalisten. Mitfahrende Journalisten twitterten auf dem Abschnitt zwischen Nürnberg und München, man habe eine Verspätung von mittlerweile zwei Stunden. Vorgesehen war die Ankunft des Sonderzuges in München für 23:15 Uhr. Letztlich erreichte er aber erst gegen 1:25 Uhr sein Ziel. Anstatt der geplanten vier Stunden, dauerte die Fahrt des Sonderzuges damit sechs Stunden. Das ist in etwa die Fahrtzeit, die bislang auf der alten Strecke benötigt wurde. In sozialen Netzwerken wie Twitter musste die Bahn angesichts der Panne Häme und Spott über sich ergehen lassen.
Und so gibt es nun am Ende des Tages
– den Nico Rosberg -Tweet
Zusammen mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel und @DB_Presse CEO Richard Lutz. Es war eine riesen Ehre für mich, Deutschlands erste High-Speed-Bahntrasse (München-Berlin in unter 4 Stunden) mit ihnen zusammen einzuweihen. pic.twitter.com/P9CmVfW423
— Nico Rosberg (@nico_rosberg) 9. Dezember 2017
– den Robin Wood - Tweet:
#DB AG macht Tickets teurer: Preise rauf - Pünktlichkeit runter. Preissystem bremst Verkehrswende aus. https://t.co/Hx8jIQ8VhD#s21 #verkehrswende #bahn pic.twitter.com/LPRmg0MPIp
— ROBIN WOOD (@robin_wood) 8. Dezember 2017
– dem "ein Mensch wie Du und ich" - tweet:
Die Bahn bleibt sich treu. 10 Milliarden Euro in eine "Expressstrecke" investiert, um dann genauso schnell dazu sein, wie vorher. Ob die Ehrengäste auch Anspruch auf eine Entschädigung haben? #ICE2581
— Mathias Honig (@MathiasHonig) 9. Dezember 2017
– diesen Text.
Angesichts solcher Meldung war es ein ganz besonderes Vergnügen, nicht als Ehrengast oder als Journalist in diesem Sonderzug eingesperrt gewesen zu sein, sondern als ganz normaler Bahnkunde zu ganz normalen Preisen aus einem zur Norm-Zeit eingetroffenen Zug diesen ganz normalen Blog-Eintrag geschrieben zu haben.
WS.