Grosse Gewinner | Die Wahrheit als Verlierer

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 7. Februar 2016 um 15h01minzum Post-Scriptum

 

Eigentlich sollte diese Seite mit einem Screen-Shot der Bild-Zeitung aufgemacht werden. Diese ist aber nunmehr im Netz GAR NICHT mehr zu sehen, sollte der hier Bericht erstattende Nutzer nicht seine Browser-Einstellungen ändern.

Nun hat die Reise in der ersten Klasse der Deutschen Bahn den grossen Vorteil, dort auch Zeitungen ausgereicht zu bekommen, die man sich vom eigenen Geld nicht kaufen würde. Und so gibt es die Möglichkeit, das Titelbild der "Bild am Sonntag" vom 31. Januar 2016 auch auf diesem Wege zu präsentierten:

Denn hier gibt es an diesem Tage nur zwei Nachrichten, die es auf die erste Seite geschafft haben:
— Der Sieg von Angelique Kerber über Serena Williams im Finale des Grand-Slam-Tennis-Turniers in Melbourne
— Der (herbeigeschriebene) Sieg der deutschen Hallenhandball Nationalmannschaft gegen Spanien in Krakau.

Das über die guten Leistungen aller Beteiligten hinaus Wichtige dieser Erfolgsmomente ist es, dass sie live mit verfolgt werden konnten und dass der Verlauf und das Ergebnis dieses Geschehens ohne Zweifel und in Echtzeit wahr-genommen werden konnte.

Ganz im Gegensatz dazu zwei Nachrichten, die in der letzten Woche viele Tage lang viele JournalistInnen - und nicht nur diese - beschäftigt haben, obgleich es bis zum "guten Schluss" darum jeweils "viel Lärm um Nichts" gab. "Nichts", was den Wahrheitsgehalt der Meldungen betrifft, dass
— eine 13jährige Russlanddeutsche von Flüchtlingen vergewaltigt worden sei
— ein Flüchtling aus der Warteschlange vor dem LAGESO in Berlin verstorben sei.

Wer sich selbst einige Jahre nach diesem Eintrag noch zu informieren versuchen wird, was sich hinter diesen beiden Lügenmärchen verbirgt, wird garantiert noch fündig werden - weshalb an dieser Stelle auf die nochmalige Dokumentation dieser beiden Vorgänge - bis hin zu ihrer Aufklärung - verzichtet wird.

Viel wichtiger wäre es, mit Distanz zu diesem Geschehen nochmals darüber nachzudenken, was hier eigentlich geschehen ist. Denn in beiden Fällen haben "uns" Privatpersonen einen Bären aufgebunden, dem zunächst einmal insoweit geglaubt wurde, als dass diese Geschichten allzu schnell quer durch die sogenannten "sozialen" Medien bis zu Presse und Politik gelangten - und dort nochmals vielfach verstärkt ausgeschlachtet wurden.

Auch wenn es wahr ist, dass beide Geschichten vom Verfasser dieser Zeit schon in-status-nascendi nicht als wahrheitsgemäss eingeschätzt wurden, mindert das mitnichten das Erschrecken darüber, dass solche Geschichten so nachhaltig ihren Weg in das öffentliche Bewusstsein nehmen konnten - oder sollte man eher sagen: in das öffentliche Unbewusste?

Die spätere Aufarbeitung dieser beiden Geschichten und der Geschichte ihrer Genese und Rezeption wären sicherlich ein gutes Thema für eine Reihe von Seminar- und Abschlussarbeiten an Berufsbildungsstätten für zukünftige JournalistInnen. Aber vielleicht geht ihre Bedeutung noch darüber hinaus. Denn sie werfen die Frage nach der Wahrheit und den Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung neu auf.

In den beiden oben besprochenen Sportereignissen ist die Wahrheit unmittelbar und wie ein Live-Krimi zu erleben, der, wie auch immer, in der vorgeschriebenen Zeitfolge stattfindet. Und ergebnisoffen.

Bei den beiden Ammenmärchen der letzten Woche wurden uns zwei Geschichten einer Vergewaltigung und eines Todesfalls präsentiert, in denen das Ergebnis bereits mit ihrer Genese festzustehen schien. Weder die Story wurde hinterfragt, noch die Absicht, warum sie erzählt wurde.

Und jetzt, wo sich das Ganze scheinbar "in Luft" aufgelöst hat, möchte man alles am liebsten wieder vergessen. Aber genau das darf nicht geschehen. Und daher auch heute dieser Eintrag als Antwort auf die immer wieder als Antrieb jedweden neuen Textes gestellten Frage: Was war das wichtigste, das berichtenswerteste Ereignis diese Tages - in diesem Fall sogar der vergangenen letzten Woche?

Es gibt Fragen, über die es sich auch im Nachgang zu diesen Nicht-Ereignissen der letzten Woche nachzudenken lohnt:

1. Gibt es überhaupt noch ein gesteigertes Interesse an "Der Wahrheit"?

In Gesprächen über dieses Phänomen wurde mehrfach von verschiedenen Personen der Satz "Im Kriege stirbt als erstes die Wahrheit" bemüht. Warum dieser Satz? Wir sind doch nicht im Krieg? Oder doch? Und gegen wen?
Ja, wir erfahren, dass immer mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr dabei helfen sollen, "unsere Freiheit" zu verteidigen - und das nicht nur am Hindukusch. Ja, wir erleben in einer bis dahin nicht gekannten Dramatik, wie Menschen in "unserem Land" Zuflucht suchen, weil sie sich den Folgen des Krieges in ihrem Lande zu entziehen suchen. Und wir erleben, wie fast "vor unserer Haustüre" mit militärischer Gewalt erfolgreich versucht wird, die Nachkriegsgrenzen neu bestimmen zu wollen - und das mit Erfolg.
Aber bedeuten all diese Phänomene, dass wir mehr als je zuvor darauf achten sollten, authentisch, wahrheitsgemäss und erst nach der mehrfachen Überprüfung der Quellen zu berichten und/oder zu kommentieren?
Früher, so wurde in einer Fachdiskussion am vergangenen Freitagabend im Deutschlandfunk gesagt, früher sei es die Aufgabe der Journalisten gewesen, auf Skandale hinzuweisen, sie aufzudecken, um den Gerechtigkeitssinn ihres Publikums damit zu bedienen, zu unterstützen. Heute dagegen läge es längst nicht mehr in der Hand dieser Eliten, die nach Partei-Meinung der AfD aus ihren Redaktionen herausgeprügelt werden sollten, heute könne jede Frau und jeder Mann sich aufmachen und über solche Skandale Zeugnis ablegen - ohne Gefahr zu laufen, noch dem Gebot Folge leisten zu müssen "Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen."

2. Gibt es überhaupt noch ein gesteigertes Interesse an "Der Wahrheit"?

Ja, wir stellen diese Frage nochmals. Denn eines haben die Ereignisse rund um die Nicht-Ereignisse der letzten Woche deutlich werden lassen. Die in den Lügen-Geschichten implizierten Behauptungen hatten Kraft genug, von anderen zum Anlass genommen zu werden, um damit ihr eigenes Süppchen zu kochen. Und wie! Hier ging es darum, einen Vorwand zu haben, um auf diesem die eigene Rezeptions-Geschichte aufkochen lassen zu können, und das mit Plan und Ziel.
Mit der Multiplikation der Distributionskanäle und der damit einhergehenden Privatisierung und Individualisierung der Urheberschaft kommt eben diesem Urheber eine ganz andere Bedeutung zu, als noch jenen einst durch einen Pressekodex sanktionierten wie privilegierten Journalisten. Ihrem akribischen, ja schon fast wissenschaftlich zu nennenden Bemühen um "das ganze Bild" standen bisher schon Strategien von "Bild" und Co. entgegen, für die der wirtschaftliche Erfolg der Publikation von höherer Bedeutung ist als ihre Anerkennung in Fachkreisen.
Heute aber stellt sich heraus, dass nicht mehr die "Yellow-Press" oder die brutale Vermarktung des Privaten à la "Bild" das Ärgste der Gefühle darstellen, sondern, dass heute "ein Gefühl" selbst zum Leitfaden einer politischen Agitation und damit zu einer scheinbar authentischen Basis einer Vermittlungsstrategie gemacht werden darf - und gemacht werden kann.
Und das bis hin zu der Tatsache, dass solche in Kommunikation aufgelöste Ideologie nicht im Virtuellen stecken bleibt, sondern die Basis zum sich praktischen Ver-Tun bildet, von den Prügel- und Reizgas-Attacken auf Journalisten bis hin zum Griff zur Waffe: um damit Flüchtlinge in ihren Unterkünften hier in Deutschland anzugreifen oder davon abzuhalten, überhaupt "deutschen Boden" zu betreten.

3. Würde das Wissen um die Wahrheit noch helfen?

Ja, zur Zeit vielleicht noch. Noch haben sich die beiden oben nur skizzierten Vorgänge als "Ente" erwiesen. Aber das Geschnatter und Getwitter darüber ist damit nicht zu Ende. Es wird intereressant sein, im Verlauf dieser Woche zu verfolgen, ob auch an anderer, vielleicht auch prominenterer Stelle dieses Thema nochmals aufgegriffen und zur Diskussion gestellt werden wird.
Oft genug besteht ja die Gefahr in diesen digitalen Diskussionszirkeln, dass eigentlich wichtige Themen zu Tode geritten werden. Hier aber gäbe es die Chance, über die angesprochenen Fragen - auch über die Grenzen des Horizonts der eigenen Wahrnehmung und "Weisheit" hinaus - einen weiterführenden Diskurs in Gang zu setzen, am Leben zu halten - um damit letztendlich auch "uns" am Leben zu halten: "Uns", die wir der Qualität des Wahrheitsbegriffs noch etwas abzugewinnen haben. Wir, die wir bereit sind, dafür zu kämpfen. Ebenso sportlich wie verbissen: als Einzelpersonen wie "Angie" (wie sie die "Bild am Sonntag" hochgetitelt hat), oder wie das Team der "Handball-Helden", als "Freischreiber" oder als Redaktion, als Blogger oder als Verlag.
Und es wäre toll, wenn wir auch dafür eine "gute Presse" bekämen.