Andrew Keen & das Daten-Tschernobyl

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 17. April 2015 um 18h27min

 

I.

Nein, dies heute wird kein klassisches Interview mit Andrew Keen werden. Denn dieser Art von Worte sind genug gewechselt - und auch publiziert - worden:
Von der Breitband-Kritik über sein Buch über "Die Stunde der Stümper" vom 13. Dezember 2008, die es - Bravo! - immer noch nachzuhören geht...
... bis zum Interview von Vera Linz in der Breitband-Sendung auf Deutschlandradio Kultur vom 4. April 2015

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2015/04/04/drk_20150404_1338_87155994.mp3

 ... und zum Gespräch mit dem TV-Moderator und Journalisten Ali Aslan am Vorabend in den Digital Masterminds@BASE_camp - hier nochmals die Einladung.

Interessant ist, dass sowohl im Klappentext des in deutscher Sprache bei DVA veröffentlichen Buches, als auch bei dessen Übernahme für die Telefonica-Veranstaltung mehrfach auf Andrews’ "viel gelesenen Weblog" verwiesen, die dazugehörige URL http://www.ajkeen.com/blog/ aber nicht einmal genannt wurde.

II.

Mit diesen Zeilen wurde das Gespräch zu Beginn dieses Tages schon seit längerem angekündigt. Und das war gut so. Denn die Aussage, dass es zu keinem "klassischen" Interview kommen würde, hat sich nicht nur bestätigt, sondern war die rückblickend klugerweise vorweggenommene Ankündigung eines Umstandes, der sich dann im Verlauf des Gespräches recht deutlich abzuzeichnen begann: Wir können nicht miteinander.

Dennoch haben wir gemeinsam im Westin Grand Hotel an der Friedrichstrasse in Berlin in der ersten Etage beieinander gehockt: Er beim Frühstücken und Teetrinken - mit einer ganzen Reihe von Zug um Zug in immer neue Heisswasserkännchen eingeworfenen Teebeuteln. Und ihm gegenüber der Reporter, der eigentlich keiner sein und sich dann doch an so guten Beispielen orientieren will, wie Richard Waters’ Reihe: "Lunch with the TF." [1]

Und im Hintergrund spukt jene Passage, in der der Interviewpartner am Ende seines Buches von (s)einem Gespräch schreibt, das er "mit einem Freund zum Mittagessen in The Battery" gehabt habe - Waters hatte "Mesquite grilled sole" gegessen, Thiel "Grilled wild salmon" - und bei dem sie beide einen gegrillten Tintenfisch bestellt hätten, zusammen mit einer Flasche Weisswein "aus dem Russian River Valley" (266).
Dieses Battery muss eine grosse Anziehungskraft auf ihn (gehabt) haben, wird es doch gleich zu Beginn des GELD-Kapitels (auf S.48) erwähnt. Es scheint sich wie eine ganze Klammer um dieses Buch zu binden... und es gelingt dennoch nicht, mit diesem Thema das Gespräch aufzumachen.

Interessant ist, dass der Stil des Webdesigns für diese Location sehr nahe an den Gestaltungskontext angelehnt ist - oder umgekehrt - den sich der Founders Fund für die eigene Präsentation hat erstellen lassen. Und nicht nur das: Eigentlich läge nichts näher als mit diesem Zitat von Bruce Gibney einzusteigen:
"And what does it mean to be contrarian? It does not mean simply doing the opposite of what the majority does – that’s just consensus thinking by a different guise, a minus sign before the conventional wisdom. The problems of reactive contrarianism are the same as those of following the herd. The most contrarian thing to do is to think independently. It is not without its risks, because there is no cover from the crowd and because it frequently leads to conclusions with which no one else agrees." [2]

Aber dann war die erste Antwort von Mr. Keen auf eine andere Frage als diese ein solcher Paukenschlag - da so überhaupt nicht erwartet - dass das in der Nachfolge daran ansetzende Gespräch immer wieder drohte, aus dem Ruder zu laufen.

III.

Der Einstieg war ebenso simpel wie - so war der Gedanke - nachvollziehbar gewählt worden: Mit dem Verweis auf das Problem, dass bei der Lektüre nur die Übersetzung seines Buches "The Internet Is Not the Answer" vorgelegen habe, und die Zitate aus "Das Digitale Debakel" nun ihm erst wieder ins Englische zurückübersetzt werden mussten, um dann darüber eine Diskussion zu beginnen.

Das war das Stichwort für das Wort "ins Englische": Ob er denn dieses Buch auf dem Hintergrund als Britischer Staatsbürger geschrieben habe oder als der in Berkeley lebende Amerikaner? Ob er seinen Text eher in Englischer oder in Amerikanischer Sprache geschrieben habe, und warum er sich in seiner Darstellung vor allem auf die US-amerikanischen Quellen und Zeugnisse bezogen habe? Also, kurz und knapp zusammengefasst, welches für ihn die bestimmenden Unterschiede zwischen der englischen und der US-amerikanischen Welt seinen, Und wie diese seine Arbeit mit-bestimmt hätten.

"I never don’t bother." Diese Antwort war ebenso frappierend wie unerwartet: Es gäbe solche Unterschiede nicht, Er wisse nicht, was mit dieser Frage gemeint sei. Ob es möglich sei zu erklären, was damit gemeint sei.

Auch beim Nachhören des Mitschnitts dieser Begegnung kommt es immer noch seltsam an, dass der Reporter nun seinerseits beginnt zu erklären, welche für ihn wichtige Unterschieden zwischen den beiden Sprachen - und Kulturen - auszumachen sind: Keen hatte ihn ausdrücklich dazu aufgefordert, darüber zu reden: " I don’t know all the differences. What IS the difference between American and British? I can’t say."

Und so kommt es zu einem interessanten Rollenwechsel: Der Fragende beginnt, die ihm gestellte Frage zu beantworten... und so kommt es dann sogleich ab diesem Punkt tatsächlich doch zu einem Gespräch, das weit über das Buch hinausweist - und zum Nachdenken einlädt.

IV.

Auch der zweite Ansatz endet in einer Sackgasse: Am Ende des Buches bezieht sich Keen auf die zusammen mit Jon Orlin produzierte Sendung "Keen On" in der er mehr als 200 Interviews geführt habe, von Kurt Andersen [3] bis Steve Wozniak. Aber auf die Frage, ob mit diesen Interviews die Grundlage für dieses Buch gelegt worden sei, war die Antwort schlicht und klar: "No. I wont say these interviews were that important for the book. They gave me a little bit of background." Nein, nicht wirklich. Er sei vielmehr der Meinung gewesen, dass es gut sei, sich am Ende bei einer Reihe von Leuten zu bedanken. Nein, diese Buch sei ganz und gar sein eigenes Werk.

Der dritte Ansatz bezieht sich auf eine sehr bizarre Sicht auf die Rolle und Funktion der Geschichte:
Auf Seite 81 heisst es: "Das einzige Gesetz der Geschichte ist, dass es keine Gestze gibt. Die Geschichte hat kein Eigenleben, sie ist blind, nimmt unerwartete Wendungen und kennt keine Absicht."
Und dann, in dem "DIE ANTWORT" überschriebenen Kapitel ist auf Seite 254 zu lesen: "Aber wenn es nur eine einzige Antwort, nur eine einzige Lösung für das Versagen des Internets gäbe, dann wäre diese eher das Gegenteil des Vergessens. Diese Antwort wäre mehr Erinnerung - aber menschliche, nicht maschinelle Erinnerung. Die Antwort ist die Geschichte."

Seine Antwort: "I don’t know that. I can’t remenber. Where do I say that"? Diese Mal ist es die Aufgabe des Reporters, diese beide Passagen nochmals vorzulesen - simultan ins Englische übersetzt. Und er erläutert: Er habe an dieser Stelle nicht von der Geschichte an sich reden wollen von: "The Knowledge of History: Remembering the Past." Wenn man nur in der Gegenwart leben würde, würde man Gefahr laufen, die Vergangenheit / das Vergangene zu vergessen.

Der vierte Versuch. Die Frage des Reporters lautet: "Do you think that, living in a digital presence, you live in another time then before, when living in an analogue presence?" Andrew: "I don’t know the difference. What’s the difference?"

V.

Da capo - al fine: Aus Fragen wie diesen entwickelt sich einmal mehr ein Gespräch. Gut so. Aber einmal mehr muss der Reporter erklären, was seine Sicht der Dinge ist, zum begründen, erläutern zu können, welches der Sinn seiner Frage ist. Und das ist weniger gut so.

Dennoch ging es eine lange Strecke so weiter, bis dass wir wirklich begannen, uns gegenseitig in ein "richtiges" Gespräch zu verwickeln, in dem wir dann auch über den Tellerrand des jeweiligen Alltags und dessen, was davon in dem Buch wiedergegeben wird, hinausgeschaut haben.

Andrew macht zwei Vorhersagen für die Zukunft, die eine auf der Ebene der Fortführung dessen, was sein Buch aufführt, die zweite als Reaktion auf diese Unterredung:

 er prognostiziert eine Art "Daten-Tschernobyl", das noch weit über die aktuellen Vorzeichen hinausgehen würde, sei es das Hacken der Teilnehmerdatenbanken bei Sony oder der Absturz des Senders TV5 Monde, von dem im Verlauf dieses Tages noch so viel zu hören und zu sehen sein würde: bis hin auf die Pole-Position der 20-Uhr-Nachrichten der ARD tagesschau .

 er spricht dem Reporter die Empfehlung aus, selber ein Buch zu schreiben
Anlass dafür war die zum Abschluss des Gesprächs auch an ihn gestellte Frage, so wie sie schon vielfach zuvor in den letzten Jahre immer wieder neu beantwortet worden war: "Was kommt nach der Digitalisierung?"
Er wusste dazu ausführlich Stellung-zu-nehmen, lobte diese letzte Frage als "sehr clever" und erklärte sie zum "Leitmotif" eines neuen Buches, das nun aus eigener Hand zu verfassen sei. Mehr dazu dann also... an anderer Stelle in spe :-)

WS.

PS.

Hier gibt es zumindest zwei Quellen, in denen der Autor selber direkt nachgelesen und ihm zugehört werden kann: Mit einem Auszug aus dem 8. Kapitel der englischsprachigen Ausgabe seines Buches, das auf seiner Website eingesehen und von dort heruntergeladen werden kann.

Und in der Ankündigung seines Buches auf der TECHONOMY-Konferenz in Detroit im Herbst anno 2014:

UND...

... es gibt eine Twitter-Empfehlung des Autors vom 11. März 2015 für dieses Video:
"how technology can improve your sex life"

"try it"

Anmerkungen

[1Hier zum Beispiel sein Gespräch mit Peter Thiel, veröffentlicht am 20. Dezember 2013, in dem zu guter Letzt auch noch die Adresse des Restaurants und alle Rechnungspositionen des Menus preisgegeben wird. Bravo!

[2Diese Aussage ist nicht nur schon "an sich" interessant genug und wird auch heute noch auf der Founders’ Website zitiert, wenngleich er selber das Team bereits Ende 2012 verlassen hat. Siehe dazu den TechCrunch Bericht von Josh Constine vom 11. Dezember 2012: Founders Fund Partner Bruce Gibney Has Left The Firm.

[3Der vom Reporter auch noch verwechselt wurde mit Marc Andreessen - wie peinlich :-(


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