Dieser nachfolgende Text ist wahrlich hard-core, auch wenn er nicht mehr darstellt als den Versuch, den Ablauf eines dieser web-week-Tage - zumindest den Verlauf der "Kernarbeitszeit" des Autors - zu dokumentieren. Dabei war ihm beim Verfassen dieses Textes noch nicht bewusst, dass ja die meisten der hier erwähnten Veranstaltungen auch im Nachhinein "im Netz" nachverfolgt werden können - und das in einer guten Qualität -, so dass an dieser Stelle dies nicht noch einmal "nacherzählt" werden muss.
Aber wenn man sich diese alle nur online angeschaut hätte, wäre ein Beitrag so wie dieser nicht zustande gekommen. Das Mit-Dabei-Sein bedeutet "eine andere Qualität". Es macht eine Menge aus, vor Ort mit den anderen Anwesenden, auch über die einzelne Veranstaltung hinaus, in Kontakt zu kommen:
— von Angesicht zu Angesicht
— in der Crowd
— und als Publikum
10:00 Uhr
Auf dem Veranstaltungsgelände der re:publica ist jener Ort, an dem zuvor die Media Convention Lounge eingerichtet worden war, in ein Ausstellungsareal umgewandelt worden, in dem sich nun eine grosse Anzahl von Firmen mit kleinen Ständen aneinanderreihten. [1]
Im ausgedruckten Programm [2] der re:publica gibt es eine Programmlücke im heutigen Tagesprogramm: auf der Bühne 4 ab
11:45 Uhr
Diese wird (mehr als) gefüllt von Uri Aviv mit seinem Vortrag: Science fiction as a laboratory for big ideas
Kurzthese:
_ Over the years science fiction has inspired the exploration of space and cyberspace and was first to imagine the robot, cyborg, clone and technological singularity. All of these are “mere byproducts” to the real focus of science fiction – society – communities, relationships, individuals – how we transform, mutate and evolve through science and how we use and abuse technology. Science fiction creators imagine the un-imaginable and explore the impossible, they perform huge scale gedankenexperiments and by doing so they give birth to our future, for giving shape to the impossible today, gives shape to the every-day of tomorrow.
– Uri hatte bereits am Tag zuvor, am Mittwoch, einen interessanten Aufschlag im Rahmen der Media Convention Berlin auf seinem Panel zum Thema: Future Interfaces – Future Formats? und gehört damit zu den wenigen, die auf beiden Veranstaltungen ihr Publikum gefunden haben.
Er stellt sich zunächst auf die Bühne... und macht eine Foto von "seinem" Publikum, wandert sodann unruhig neben der Bühne hin und her, streckt die Arme aus, schaut auf die Uhr - und wir im Publikum bekommen von all dem nichts wirklich mit, da wir sämtlich Ohrhörer aufhaben, die uns akustisch von dem Geschehen um uns herum abschotten. [3]. Der Redner im Wartestand findet das Ganze dann eher gut: "This is science fiction, this is very cool." [4]
Und dann statuiert er ein Exempel um zu zeigen, welchen Einfluss SciFi auf die Wirklichkeit haben kann.
Dazu verweist er auf
— Albert Einstein und seinen Brief an den US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt und das Engagement seiner Vorreiter,
— Frederick Soddy: The Interpretation of Radium.
— H.G. Wells [5] : Seine Scientific Romances, die uns vertraut machen mit Phänomenen von A_liens bis hin zur Z_eitreise. Er hat in seinem Buch: The World Set Free erstmals von einer ganz neuen Waffe gesprochen, die ganze Städte und Länder zerstören kann, eine Waffe, die jeder mit sich herumtragen könne und von einem Flugzeug abwerfen.
— Lynard Zillard, promoviert bei Einstein und erfindet in London auf der Southhampton Road die 1933 zum Patent angemeldete Idee für einen Atomreaktor. [6]
Science Fiction sei für ihn der Name eines Labors für neue Ideen, für unmögliche Dinge, die noch nicht einmal einen Namen haben, und für soziale Prozesse, die man sich bislang noch nicht einmal habe vorstellen können.
_Seine Sentenz: Die Grenzen des Möglichen seien nur zu erkunden, wenn man das Unsichtbare (be-)suche.
14:00 Uhr
Die "Lightning Talks", u.a. mit:
– Wolf Lotter: Aufruf zum Wissensarbeiteraufstand
Wir arbeiten mit dem Kopf, nicht mit den Händen. Wir arbeiten kreativ, nicht mehr in der Monotonie der Fabrik. Darauf nimmt weder die Arbeitswelt noch die Politik noch der kulturelle Mainstream Rücksicht. Die Industriegesellschaft bestimmt Takt, Verkehr, Denken, Leben, Arbeit, Zukunft. Wir brauchen einen Kopfarbeiteraufstand, der die Konturen einer Wissensgesellschaft zeichnet. Gerade jetzt, wo Politik und Establishment sich ein selbstzufriedenes "Gut gemacht" zuraunen.
Wolf [7] will, dass "die Zeiten des neuen Biedermeier" vorbei sind. "Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts", so sein Motto: Und die Wissensgesellschaft sei eine offene Gesellschaft, die keine Angst hat vor dem Neuen, der Veränderung, des Wilden.
Sein Credo: Das Wilde und das Wissen sind eins. Zerstörung bedeute auch die Chance des Aufbaus des Neuen. Die Welt des Schichtbetriebes des Dampfmaschinenzeitalters, das sei immer noch die Folie für die "Muckibude des letzten Jahrhunderts".
Und sodann einer Reihe von Frauen, die in kurzen "Brand-"reden auf ihre Fragestellungen und die daraus erwachsenen Aufgaben hinweisen:
– Belinde Ruth Stieve: Retro Reality im deutschen Fernsehen – kein Ende in Sicht?
Die fiktionalen Formate im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sind gegenwärtig gekennzeichnet durch deutlich weniger Frauen- als Männerrollen, ein Verschwinden von Frauenfiguren ab 40, und Geschlechterstereotype, die an die 1950er Jahre erinnern. Ein Großteil des gebührenzahlenden Publikums wendet sich ab und guckt stattdessen ausländische Produktionen über das Internet.
Aber! allmählich organisiert sich Widerstand in der Branche, – so dass 2014 einige Kampagnen an den Start gehen könnten.
Sie macht uns klar, dass aus ihrer Sicht die öffentlich-rechtlichen Anstalten ihre Aufgabe nicht erfüllen, da sie Frauen nicht in einem angemessenen Rahmen re-präsentieren - über 40 schon bald gar nicht mehr...
– Rahel Kraska: Soundtrack fürs Leben - Das Konzert auf der selbstgezeichneten Bühne
Rahel Kraska zeichnet sich ihre Bühne selbst!
Sie animiert ihre Comicfigur Rahel Comic Girl zum Instrumentespielen und kreiert die 1,5-stündige Multimediashow "Soundtrack fürs Leben".
Neben ihren Songs erzählt die Multimediakünstlerin vom Weg von der realen auf die virtuelle Bühne und wieder zurück.
Rahel ist ein Beispiel für eine junge Musikerin, die sich nicht allein auf die im Verlauf des Studium erworbenen künstlerischen Qualitäten verlässt, diese systematisch weiter ausbaut und nach und nach beginnt, auch die Produktion und Distribution ihrer Werke selbst in die Hand zu nehmen - trotz all der allgewaltigen Konkurrenz.
– Anne Roth: Speakerinnen-Liste - mehr Frauen auf die Bühne
Die "Speakerinnen-Liste" ist die Idee vieler Frauen und wurde technisch von acht Frauen mit der Unterstützung von vier Coaches als Lernprojekt der Rubymonsters, einer Lerngruppe der Rails Girls Berlin, gebaut. Anscheinend hat sie einen Nerv getroffen: in den ersten zwei Wochen haben über 500 Frauen ein Profil angelegt, der Twitter-Account @speakerinnen bekam im selben Zeitraum über 1000 Follower. Wir reden darüber, warum sie nötig war, was noch fehlt und warum das Netz weiter gut dazu ist, mit kleinen Ideen viel in Bewegung zu setzen.
Gut zu hören, wie die jungen Frauen aus der Rails Girls-Ecke sich aus der "Nullcheckerbunnies"-Ecke in nicht einmal zwei Jahren zu einem veritablen Programmierkader gemausert haben, um in diesem Jahr am 8. März zum Frauentag 2014 die neue Seite zu lauchen.
In zwei Wochen seien schon mehr als zweitausend Themen eingetragen worden, worauf erst einmal die Datenbank neu organisiert werden musste.
Weitere aktuelle Aufgaben: die Internationalisierung und die Profilierung für die mobilen Anwendungen.
15:00 Uhr
Mit FrauenPower ging es auch auf der Bühne 1 weiter:
– Gabriele Fischer, "die Mutter von BRAND EINS", befragt von Johnny Häusler
Besondere Aufmerksamkeit findet ihre Aussage, dass man sich auch in dieser Redaktion um den Kontakt mit Anzeigenkunden bemühe, wenngleich von vornherein klar gewesen sei, dass diese Kunden alleine nicht der Garant für das Über-Leben dieser für das Lese-Publikum geschriebenen Publikation sein könn(t)en.
Jetzt habe man alle diese Kunden in einer Art Wettbewerb angeschrieben und ihnen angeboten, eine Woche lang free-of-charge auf ihrer Online-Seite werben zu dürfen, wenn man dafür ein gutes und intelligentes Konzept vorweisen könne. Daraufhin gemeldet habe sich ... ein einziger Kunde [sic!] [8].
Und dann die Abschlussfrage aus dem Publikum, was sie, Gabriele Fischer, in 10 Jahren sein werde, wenn sie nicht mehr als Chefredakteurin BRAND EINS betreuen würde.
Und die Antwort besteht aus einem einzigen Wort, voller Klugheit, Witz und im lachenden Einverständnis mit sich selber. Es lautet: "alt".
Ein Vorschlag für das Programm im Folge-Jahr 2015: Ein Interview mit der dann nicht mehr neuen Chefredakteurin der Wirtschaftswoche, Miriam Meckel.
15:30
– Delia Browne, Co-Founder & Director der Peer-2-Peer University, P2PU.
Da ja all diese Vorträge auch im Netz werden nachverfolgt werden können [9], hier nur dieses eine Stichwort, dass es neben all den Merkmalen für eine erfolgreiche Arbeit vor allem um die Förderung der Empathie ginge.
Und einer ganz besonderen Haltung zum Thema des Urheberrechts:
16:15
– Dorothee Werner [10] & Sascha Lobo: Betriebssystem Buch [11]
Eine gut vorbereitete, gut gemachte und wahrlich interaktive Session, a co-shared speach mit vielerlei Anlass und Möglichkeiten des Gedankenaustauschs mit dem Publikum: via twitter und sogenannten spoken tweets, womit nichts anderes gemeint sind als kurze Wortbeiträge.
Dabei ist klar, dass beide Seiten auch "ihr eigenes Süppchen kochen" wollen:
— Der Börsenverein mit seiner protoTYPE- Initiative
— Der Verleger Lobo mit seinem und Christoph Kappes’ sobooks - Projekt. [12]
Das Buch als "Betriebssystem"? Auf jeden Fall haben die Promotoren eines solchen Themas Konjunktur. Und das steht der Branche insgesamt sicher gut zu Gesicht. Egal, ob das mit dem "Betriebssystem" nun wirklich letztendlich so stimmig ist, oder nicht eher von einem Speicher oder von einer Art Bios zu sprechen sei.
Auf jeden Fall gilt: Das Thema der Virtuellen Realität gibt es nicht erst, seitdem es Bücher gibt, und es wird fortdauern, auch wenn bestimmte Bücher nicht mehr in papierner Gestalt gelesen werden können.
Wichtig sind heute vielmehr Fragen,
— wie "das Netz" auf "das Buch" wirkt - und vice versa
— wie es in Zukunft um Anspruch und Wirklichkeit des in der Sturm- und Drang-Zeit - also nach 1770 - geprägten Profilierung des Autors als einem "Originalgenie" bestellt sein wird
— wie es um dieses "Buchgefühl" bestellt sein wird, dieses Versenken in etwas, ohne Ablenkung, diesen "Flow", der beim Lesen eines Buches fast wie eine Droge über einen kommen mag
— wie sich der Schreibstil für die Lektüre eines digitalen Gewerkes wird ändern müssen: kürzer, prägnanter, serieller werden
— wie es sich mit der Aufhebung der technischen Begrenzungen der Abgeschlossenheit des Buches verhalten wird
— ob sich eine solche "Abgeschlossenheit" im Netz / über das Netz wieder herstellen lassen wird, etwa in Form von Versionierungen?
— ob ein Buch als als eine Art Facebook-App wird funktionieren können?
— ob ein Buch jetzt nicht noch besser auf LeserInnen-Interessen und -Reaktionen wird reagieren können, so wie es spätestens seit den Fortsetzungsromanen eines Christian Friedrich Hunold um 1700 geschehen ist?
Viele gute Fragen. Und eine Überzeugung, die für die Zukunft noch viele Veränderungen mit sich bringen wird. So richtig es ist, dass "das Buch ins Netz wandern" werde, so wichtig bleiben doch die begründeten Zweifel, ob "das Buch" damit ganz und gar ins Netz abwandern wird.
Denn die derzeit im Netz vorzufindenen eBooks sind nichts anderes als die alten Formate in neuen Schläuchen - bis hin zur Imitation des Umblättergeräusches auf dem Lesegerät...
17:30
In der Anmod zur nachfolgenden Veranstaltung im gleichen Raum heisst es dann: "Sascha Lobo ist keine Messlatte für die re:publica!", und die verbleibenden bzw. wenigen neu hinzugekommenen Gäste im Publikum werden herzlich begrüsst.
Mit Bezug auf diese nachfolgende Diskussion zum Thema "Menschenrechte Jenseits des ’Zuckerhuts’" mit Dirk Brengelmann, Wenzel Michalski und Ines Pohl [13] wird hier auf den alsbald sicher auch als Videostream bereitgestellten Verlauf verwiesen [14], da sich hier an der Diskussion dieses Themas auch der Autor - ab der Position 28:28 - mit einem Beitrag engagiert.
Für die bevorstehenden Diskussion mit den USA in Form einer Multi Steakholders Conference werden von Dirk Brengelmann drei Themen genannt, die nunmehr ausgehandelt worden seien:
— Wie definieren wir die Balance von Sicherheit und Freiheit
— Das ökonomische Potenzial des Internet
— Ansätze der Zusammenarbeit
In der nachfolgenden Diskussion mit dem Publikum wurde gerade die erste Fragestellung in Frage gestellt, worauf die Aufforderung von der Bühne kam, doch selber einen Vorschlag zu machen.
Und der lautete: "Was bedeutet Vertrauen in die staatlichen Institutionen als shareholder von citizen values."
Aber auch hier ein sehr viel weitergehender Vorschlag: Wenn sich die Bundesregierung im Verlauf dieser Gespräche nicht mit den Schutzinteressen der hiesigen Bevölkerung - und der Industrie - wird durchsetzen können, warum dann nicht "von oberster Stelle" dazu im nächsten Jahre ein Erklärung abgeben: auf der re:publica 2015?!
18:30
Zum guten Schluss: "Goodbye & farewell!"
Die bittere Pille vom guten Schluss:
[15]
Hier zumindest zur Kompensation ein kleiner selbstgedrehter Auszug vom Auftritt aller an der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Veranstaltung Beteiligten:
Und die Szenen-Bilder zum Abspann:
– Tanja
– Markus
– Johnny
– Andreas
PS.
Auf dem Weg zu diesem dritten re:publica-Tages zunächst ein Abstecher zum Nordeingang der Messe Berlin, die sich (oder ihr Gelände?) jetzt "Berlin Expo Center City" nennt, wo das neue Messeformat der "tools" [16] erprobt wird.
Es ist wirklich interessant - aber auch erschreckend - zu sehen, wohin sich der einst als Deutscher Multimedia Verband [17] gegründete Verein hin entwickelt hat: zumindest weg von der Basis. Oder aber hin zu einem neuen Publikum, das er offensichtlich noch nicht in seiner ganzen Breite hat ansprechen können.
Das Bild vom Start des heutigen Tages spricht für sich selbst: