Anlass für den nachfolgend zitierten Text von Eva Dorothée Schmid und Hartmut Augustin aus der Samstag-Ausgabe der von uns abonierten Berliner Zeitung sind die folgenden Zeilen.
"Vor allem der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und andere im Senat haben Angst, dass die sechswöchige Sperrung der Hauptverkehrsachse zu einem Verkehrschaos führt. Wowereit, so heißt es, befürchte, dass sich viele Berliner dann ärgern würden und seine Wahlchancen im Herbst 2006 sinken könnten".
Dass erst jetzt - so "kurz" vor Beginn der Veranstaltungen - nach neuen Möglichkeiten gesucht wird, die seit langem ausgebrüteten Konzepte und Versprechungen über den Haufen zu werfen, ist nicht nachvollziehbar. Und dass die oben zitierten Bedenken der wahre Grund sind für die jetzt angestossenen Massnahmen, erst recht nicht.
Die Weltmeisterschaft in Berlin ist eine Ausnahme-Situation, die dazu herausfordert zu zeigen, ob wir wirklich geeignet sind, als "Freunde" unserer Gäste hier in Berlin aufzutreten und sie als solche willkommen zu heissen.
Dass es zu dieser Meldung zu dem ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt kommt, an dem man sich schon einmal im Verlauf des jetzt laufenden Confed.Cups hätte ausprobieren können, ist das schärfste. Anstatt zu erproben, was gehen könnte, wird Versprochenes zurückgenommen. Anstatt die Fantasie zu mobilisieren, die über die juristisch eh unhaltbare "Tauschbörse für Tickets" oder "ein Internetcafé" hinausgeht, wird gemauert. Das Fanfest auf der Straße des 17. Juni soll ausfallen, weil ein Verkehrschaos befürchtet wird. Warum nicht aus den Erfahrungen mit der Love-Parade oder einem Karneval der Kulturen Parameter ableiten, die gut genug sind, auch solche Herausforderungen meistern zu können?
Wir zitieren:
Berlins WM-Konzept 2006 geplatzt
Die Welt zu Gast bei Freunden - so lautet das Motto der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Doch Berlin ist auf seine Gastgeberrolle nur unzureichend vorbereitet und hat dafür am Freitag auch Kritik vom WM-Organisationskomitee geerntet. Denn das Fanfest der WM kann nun nicht wie geplant von Anfang Juni bis Anfang Juli auf der Straße des 17. Juni stattfinden. Der Grund: Vor allem der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und andere im Senat haben Angst, dass die sechswöchige Sperrung der Hauptverkehrsachse zu einem Verkehrschaos führt. Wowereit, so heißt es, befürchte, dass sich viele Berliner dann ärgern würden und seine Wahlchancen im Herbst 2006 sinken könnten. Ein alternativer Standort für das Fanfest ist noch nicht gefunden. Das wird auch schwierig. Denn die Partymeile auf der Straße des 17. Juni war bislang das Kernstück des Berliner WM-Konzepts. Die Hauptstadt ist derzeit die einzige WM-Stadt, die noch keinen festen Platz dafür hat.
Nach Angaben von Jürgen Kießling, WM-Beauftragten in der Senatssportverwaltung, seien sowohl die Sponsoren als auch die internationale Fußballorganisation Fifa von dem Standort auf der Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule begeistert. 40 000 Fahrzeuge, die dort täglich unterwegs sind, müssten jedoch sechs Wochen lang umgeleitet werden. Laut Kießling sieht es derzeit eher nach einem alternativen Standort aus. Welcher das sein könnte, wollte er nicht sagen, weil er befürchtet, andere Veranstalter könnten der Stadt den Platz wegschnappen. Der solle aber auf jeden Fall zentral und nicht am Stadtrand liegen. Er müsse hohe Anforderungen erfüllen was die Lage betrifft, die Sicherheit und die Verkehrsbewältigung. Eine Entscheidung werde in spätestens vier Wochen getroffen, so Kießling.
Werbung am Mittwoch
Berlins Tourismusindustrie will jedoch für die Straße des 17. Juni kämpfen. "Wir sind für diesen Standort, weil er weltweit einmalig ist", sagt Hanns Peter Nerger, Chef der Berlin Tourismus Marketing GmbH. Die Hauptstadt könne sich dort wunderbar der Welt präsentieren. Beim runden Tisch Tourismus am Mittwoch mit dem Regierenden Bürgermeister wollen sich die BTM und die Hotellerie der Stadt dafür einsetzen, dass das Fest doch noch in Tiergarten stattfindet. Auch Klaus-Dieter Gröhler, Baustadtrat und stellvertretender Bürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, kritisiert, dass das Konzept ein Jahr vor Beginn der Weltmeisterschaft noch in Frage gestellt wird. "Langsam muss man mal wissen, wo genau welches Event stattfindet", sagt Gröhler. "Ich glaube in Berlin wird die Größe des Ereignisses unterschätzt. Wir sagen hier schon ,Stell Dir vor es ist Anpfiff und keiner hat’s organisiert’", so der Stadtrat.
Diese offiziellen Fanfeste der Fifa, die es in jeder WM-Stadt gibt, sind bei der Weltmeisterschaft 2006 neu.
Mit großer Leinwand
Sie sollen für all jene, die keine Karten fürs Stadion bekommen haben, ein Ort zum Feiern sein. Neben einer Videoleinwand wird es auch einen Festplatz geben, wo sich zum einen die Hauptsponsoren der Fußball-Weltmeisterschaft präsentieren und wo es zum anderen Essensstände gibt sowie Angebote für Familien und Jugendliche. Kießling kann sich zum Beispiel eine Tauschbörse für Tickets vorstellen oder ein Internetcafé.
Neben dem offiziellen Fanfest können sich auch private Initiativen Lizenzen für WM-Veranstaltungen sichern. Wie viele private Fußball-Feiern in Berlin stattfinden werden, ist auch noch unklar. Sicher ist bisher nur, dass das ZDF im Sony-Center eine Leinwand aufstellen wird. Adidas will auf dem Rasen vor dem Reichstag eine Event-Miniatur-Arena für 8 500 Besucher errichten, die Verhandlungen mit dem Bezirksamt Mitte sind jedoch noch nicht abgeschlossen. Adidas wollte ursprünglich auf den Schlossplatz, der aber steht wegen des Abrisses des Palasts der Republik nicht zur Verfügung, so Kießling. Laut Kurt Lehrke von der Arbeitsgemeinschaft City West plant ein privater Veranstalter, auf dem Breitscheidplatz eine Leinwand aufzustellen. Bei der Fifa ist man von dem Berliner Sinneswandel überrascht. Noch Ende des vergangenen Jahres hatte die Senatskanzlei gegenüber der Fußballorganisation schriftlich erklärt, dass es auf der Straße des 17. Juni ein Fanfest geben werde.
Feodor Radmann vom WM-Organisationskomitee bescheinigte Berlin am Freitag bei der Vorstellung des Programms für die Stadiongala am 8. Juni 2006 dann auch, dass es noch erheblichen Nachholebedarf bei den Festen gebe.
PS. Die Fortsetzung dieser Geschichte findet sich in einem Beitrag vom 6. Dezember 2005 WO WIr doch Freunde sein wollen II
Dieser Beitrag findet eine weitere - tragische - Fortsetzung, die in der Berliner Zeitung vom 11. Juli 2006 wie folgt dargestellt wird [1]
"Mister WM" schoss sich nach dem Finale in den Kopf
[...] Die Fußball-WM war sozusagen sein Kind. Ohne ihn hätte sie in Berlin wohl nicht stattgefunden. Und ohne ihn hätte es keine Fanmeile auf der Straße des 17. Juni gegeben. Dass alles so perfekt lief - auch das war mit sein Verdienst. Er hätte also allen Grund gehabt, stolz zu sein. Doch nach Abpfiff des Finales am Sonntag griff der WM-Beauftragte des Senats, Jürgen Kießling, zur Pistole, er drückte ab und schoss sich in den Kopf. Ein Nachbar, der den Schuss im sonst so ruhigen Reinickendorfer Ortsteil Lübars gehört hatte, alarmierte um 0.13 Uhr die Feuerwehr. Die Rettungskräfte fanden Berlins obersten Sport-Beamten in seinem Haus. Dem Notarzt gelang es schließlich, den Zustand des 65-Jährigen für den Transport ins Krankenhaus zu stabilisieren. Er brachte den Verletzten, der künstlich beatmet werden musste, ins Virchow-Klinikum. Der Zustand Kießlings ist ernst, hieß es.
Die Gründe für den versuchten Selbstmord sind bislang unklar. Kießling hinterließ zwei Abschiedsbriefe - einen an seine minderjährige Tochter, die beide Schreiben auch fand, und einen an den Rest der Familie. Über den Inhalt der Briefe gab die Polizei keine Auskunft. Es hieß nur vage, er habe unter anderem Probleme "im politischen Bereich" gehabt.
Jürgen Kießling wohnt allein mit seiner Tochter in einem Einfamilienhaus. Seine Frau war vor einigen Jahren nach einer schweren Krankheit gestorben. Ein Sohn aus erster Ehe lebt nicht in Berlin. Der Beamte war am 13. Juni 65 Jahre alt geworden, sollte aber dennoch zunächst noch ein Jahr in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport arbeiten. Nach dem WM-Stress wollte er nächste Woche Urlaub machen.
Die Polizei ermittelt derzeit, wie Kießling an die Pistole vom Typ Walther PPK gelangen konnte, die er benutzte. Bislang ist unklar, ob er für die Waffe vom Kaliber 7,65 Millimeter die notwendige Waffenbesitzkarte hat.
Keineswegs konfliktscheu
Senatssprecher Michael Donnermeyer sagte gestern auf Anfrage, er sei "schockiert" über die Tat Kießlings. Zwei Jahre habe er intensiv mit ihm zusammengearbeitet. "Er hat alles gemacht", sagte Donnermeyer. Verhandlungen mit dem Weltfußballverband Fifa, die Suche nach Trainingsstätten für die Teams, die Vorbereitungen für das Fan-Fest, die Klärung der Besucher-Anfahrt zum Stadion - all diese Aufgaben fielen ganz oder teilweise in den Verantwortungsbereich Kießlings. Sogar als Sprecher aller zwölf WM-Städte in Deutschland fungierte er. Kießling, behördenintern "Mister WM" genannt, scheut sich nicht vor Konflikten mit seinen Vorgesetzten. So war er es, der beharrlich dafür warb, das Fan-Fest auf der Straße des 17. Juni im Tiergarten zu veranstalten und nicht - wie es der Regierende Bürgermeister zunächst wollte - im Spreebogenpark. Gerade wegen dieses Fan-Festes konnten sich Berlin und Klaus Wowereit international hervorragend präsentieren.
Gestern erhielt Jürgen Kießling nun auch einmal öffentlich Anerkennung für sein Engagement. Der Regierende Bürgermeister und Sportsenator Klaus Böger (beide SPD) hielten ihre Bilanz-Pressekonferenz zur WM ab, in der sie Kießlings Wirken lobten. Sie gingen jedoch mit keinem Wort auf dessen Verzweiflungstat ein, von der sie kurz zuvor erfahren hatten. Donnermeyer begründete dies später mit der Position Kießlings, der "keine öffentliche Person" sei.
Die Autoren dieses Artikels sind: H. Augustin, A. Kopietz, U. Paul und L. Schnedelbach