Go 55+East: Weises "worst ager"

VON Dr. Wolf SiegertZUM Mittwoch Letzte Bearbeitung: 25. Februar 2005 um 12 Uhr 22 Minuten

 

Nichts ist grausamer als die Wahrheit. Die Schönheit wird oft nur erlebar als Produkt einer Schein-Welt. Die Wahrheit zu sagen, gilt als unschön.

Arno Widmann macht sich in der Berliner Zeitung vom 24. Februar 2005 in seinem Kommentar über die Reaktionen auf die vom Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, vorgetragene Meinung seine Gedanken.

Sie werden hier im Wortlaut zitiert. Weil ihnen zuzustimmen ist. Aber auch, weil Anschlussfragen fällig werden: welches denn die "gefragten Qualifikationen" seien, mit denen die Menschen im Alter von 55+ noch Chance auf eine bezahlte Beschäftigung haben könnten? Wo sind die Kriterien, die sogenannten "Best-Practice"-Beispiele? Fragen wir doch jene, die selbst zu dieser Altersgruppe gehören: Herr Brüderle, Herr Clement, Herr Laumann?*

Leben mit der Arbeitslosigkeit

Arno Widmann

Die Empörung über den Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, ist groß. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle fordert eine Entschuldigung. Der Sozialverband Deutschland nennt Weise zynisch, und der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Arbeit der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Karl-Josef Laumann, spricht von einer Bankrotterklärung der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik.

Weise hatte in einem Interview gegenüber der Financial Times Deutschland erklärt, "in den neuen Bundesländern können wir vielen Menschen in der derzeitigen Wirtschaftslage kaum etwas bieten". Für Arbeitslose über 55 Jahre, die nicht über eine gefragte Qualifikation verfügen, solle ein Übergang gefunden werden. Die Bundesagentur könne hier nicht mehr helfen. Das waren die sensationellen Meldungen des gestrigen Vormittags.

Sie waren sensationell, nicht weil sie uns etwas Neues mitteilten. Jeder, der die Lage in der Bundesrepublik auch nur ein wenig verfolgt, kennt die von Weise angesprochene Lage. Sie waren sensationell, weil endlich einer aus der obersten Riege der Verantwortlichen die Wahrheit gesagt hatte. Seit Jahren versucht man uns weiß zu machen, man bekämpfe die Arbeitslosigkeit. Je länger dieser Kampf dauert, desto mehr Arbeitslose haben wir. Die Verwandlung der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit - ein Kernpunkt der Hartz-Reformen - war ja verbunden mit der Propaganda der Idee, man könne der Arbeitslosigkeit durch geschicktere Arbeitsvermittlung Herr werden. Das war eine Lüge. Die Gründungslüge der Bundesagentur für Arbeit. Dass nun deren oberster Chef dieser Lüge den Garaus macht, ist eine Sensation.

Aber, zwei Stunden nachdem Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement Weise widersprochen und erklärt hatte, die Bundesagentur werde sich weiter auch um die älteren ostdeutschen Arbeitslosen kümmern, wies Frank-Jürgen Weise in einer Presseerklärung "Medienberichte zurück, nach denen sich die Bundesagentur aus der Betreuung älterer Langzeitarbeitsloser in Ostdeutschland zurückziehen will." Das klang nach einem schrecklichen Rückzieher. Glücklicherweise erklärte Frank-Jürgen Weise aber auch: "Bei den Menschen, denen wir bei der derzeitigen Wirtschaftslage keine Stellen anbieten können, die objektiv kaum eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, müssen wir ehrlich sein."

Weise hat Recht. Wir werden auch bei der schönsten Konjunktur niemals wieder Vollbeschäftigung zu den Bedingungen haben wie die Westdeutschen sie in ihrer schönsten Zeit kannten. Wer glaubt, die ungeheuren Verwerfungen auf den in den letzten Jahren legal und illegal gigantisch gewachsenen Arbeitsmärkten mit Hilfe einer Bundesagentur für Arbeit in den Griff zu bekommen, der lügt.

Aber wer diese Wahrheit nur sagt, um die Arbeitslosen aus der Arbeitslosenstatistik herauszuschummeln und um in den nächsten Bundestagswahlkampf mit einer geschönten Statistik einziehen zu können, der lügt auch. Wer die Wahrheit über die Bundesagentur für Arbeit sagt, der muss auch sagen, wer in Zukunft für die Mitbürger zuständig sein wird, um deren Betreuung die Bundesagentur sich nicht sinnvoll kümmern kann. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren zu viel Zeit damit zugebracht, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen, als dass sie jetzt noch viel Zeit dafür hätte, sie nicht nur mit der realen Lage, sondern auch mit - möglicherweise ja vielleicht sogar vorhandenen - wirksamen rotgrünen Lösungen vertraut zu machen. Die Regierung weiß das, aber sie zieht wieder einmal den falschen Schluss daraus.

Statt Frank-Jürgen Weises Aufschrei - ich kann bei einigen Problemgruppen wirklich nicht helfen - Ernst zu nehmen und die Möglichkeiten der Bundesagentur auf den Arbeitsmärkten genau zu analysieren, ruft Clement: Weitermachen, Deckel drauf, Augen zu und durch. Dazu brauchen wir keine Regierung. Eine solche Regierung haben die Bundesrepublikaner nicht verdient. Selbst wenn sie sie gewählt haben. Die Empörung über Weises Äußerung, gar Brüderles Forderung nach einer Entschuldigung Weises, zeigt aber, dass auch die Opposition nicht bereit ist, der desaströsen Lage ins Auge zu sehen und der Bevölkerung klar zu machen, dass es nicht mehr gehen kann um die Abschaffung der Arbeitslosigkeit durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern um ein solidarisches Sich-Einrichten-in-der-Arbeitslosigkeit.


?* Einige Antworten dazu liefert die Doppelnummer 29-30 von "Das Parlament" vom 12.07.2004 in deren Beilage "Aus Politik und Zeigeschichte" laut Volker Koop die Herren erklären:

Sollen also weitere arbeitsfreie Feiertage gestrichen werden, um die Wirtschaft anzukurbeln?

Der FDP-Abgeordnete Rainer Brüderle hält davon wenig. Er gesteht zu, dass die Deutschen unterm Strich 2004 mehr arbeiten als in anderen Jahren - und das ohne den so genannten Lohnausgleich. Die feiertagsbedingte Mehrarbeit trage in diesem Jahr zu einem Drittel zum Wirtschaftswachstum bei. Für mehr Wachstum müsse das volkswirtschaftliche Arbeitsvolumen bei gleichen Lohnkosten gesteigert werden, sagt er. Das sei nicht nur arbeitgeber-, sondern auch arbeitnehmerfreundlich, denn ein höheres Wirtschaftswachstum nutze allen.

Um das Bruttoinlandsprodukt auch in den kommenden Jahren zu steigern, wenn wieder mehr Feiertage auf Werktage fielen, brauche man dennoch nicht Feiertage je nach Kalenderlage streichen. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende: "Nächstes Jahr keinen arbeitsfreien 1. Mai oder 3. Oktober? Das ist gar nicht nötig." Der FDP-Parlamentarier hat auch gleich einen konkreten anderen Vorschlag parat. "Wenn alle Deutschen pro Woche eine Stunde länger arbeiten, sind das aufs Jahr gerechnet rund sechs zusätzliche Arbeitstage. Eine Stunde Mehrarbeit in der Woche ist für fast jeden zu verkraften. Trotzdem hätten wir dann immer noch mehr Freizeit als die meisten anderen Industrieländer." Dieser Weg sei viel wirksamer, als womöglich einen Oster- oder Pfingstfeiertag zu opfern. Im Übrigen, so Rainer Brüderle, seien die kirchlichen Festtage wie auch alle anderen Feiertage ein Stück unserer Kultur, das nicht ohne Not preisgegeben werden sollte. "Zeit für Familie, für Entspannung - davon profitieren auch diejenigen, die sich beispielsweise den religiösen Traditionen nicht mehr so stark verbunden fühlen."

An Feiertagen festhalten will auch der CDU-Abgeordnete Karl-Josef Laumann. Es sei unbestritten, dass sich Deutschland in einer tiefen Strukturkrise befinde - und mit weniger Arbeit sei noch niemand aus einer Krise herausgekommen. Einfach nur Feiertage abzuschaffen, hält der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Arbeit seiner Fraktion für falsch, denn sie hätten einen Sinn auch für die Werte in unserem Land. Tage, an denen die meisten Menschen frei hätten, förderten die Gemeinschaft und ehrenamtliche Tätigkeit. Aus der Krise führt für Karl-Josef Laumann ein anderer Weg: "Wir müssen wieder mehr arbeiten, eher ins Berufsleben einsteigen, die Frühverrentung stoppen, und vor allem brauchen wir flexiblere Wochen-, Monats- und Jahresarbeitszeiten. Dies kann auch eine Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit bedeuten. Beide Tarifpartner sind gefordert, sich im Interesse der Beschäftigten und zur Schaffung von neuen Jobs zusammenzuraufen und Regelungen zu finden, die den Betrieben vor Ort auch wirklich ein Mehr an Beschäftigung ermöglichen."


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