Ein freier Tag - ein Feiertag? Kommentar von WS

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 5. Oktober 2024 um 00 Uhr 11 Minutenzum Post-Scriptum

 

Dieser Tag ist ein besonderer Tag. Er beginnt spät. Denn er ermöglicht. sich nach einem frühen Erwachen nochmals auf die Seite zu legen und bis spät in den Vormittag weiterzuschlafen.. Und das ist alles andere als banal, zumal auch an diesem Vormittag wieder einmal erneut viele Träume mit den schier unglaublichdten Geschichten das Gehirn durchstreifen.

Der zweite besondere Moment ergibt sich dadurch, dass an diesem Vormittag und auch in den Stunden danach kein Radio angestellt, kein Fernseher angeschaltet wurde. Denn es ist bekannt, oder zumindest vorhersehbar, was es auf diesen vielen Frequenzen zu hören und zu sehen geben wird. Das Reden oder Räsonieren über die wieder erlangte Einheit zweier deutscher Staaten.

Dieses Jahr trifft sich die Politprominenz in Schwerin. Und doch es ist klar und nachweisbar, dass nach wie vor viele aus dem Westen bis heute nicht an diesem Ort waren, ja vielleicht nicht einmal wissen, wo dieser Ort liegt.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass immerhin gut 2 Millionen Menschen nach dem Zusammenbruch der DDR in dieses ehemalige Staatsgebiet gezogen sind und bis heute dort leben und arbeiten . Und sie ziehen ihre Kinder dort auf. Wäre dieses nicht geschehen, wären noch mehr von diesen Landstrichen untergegangen...

Ja, nach dem Anschluss des Staatsgebietes der DDR an das der BRD hätte es auch für den Autor dieser Zeilen mehrere Gelegenheiten gegeben, in dieses Land zu ziehen und dort an verantwortlicher Stelle im Medienbereich tätig zu werden. Es gibt Bekannte und Freunde, die diesen Weg gegangen sind, der eigene ist es nicht gewesen.

Und wie sich sagen lässt, so viele Jahre nach dieser Entscheidung, es war die richtige.

Dabei hatten fünf Jahre in der DDR – wobei Berlin-Ost nicht unbedingt wirklich stellvertretend stehen kann für die gesamte DDR – eine besondere privilegierte Ausgangs-Situation signalisiert, einen solchen Job anzunehmen. In jenen Jahren hatte ich dort nicht nur ein permanentes Aufenthaltsrecht, sondern auch eine Wohnung und ein Konto in Mark der DDR, auf das meine Honorare für meine Publikationen zum Thema Brechts und andere verwandte Theaterthemen eingezahlt wurden.

Und dann der "Fall" der Mauer am 9. November 1989: Damals gab es in den Händen zwei Adressbücher. In der rechten das der BRD, in der linken das der DDR. Wenige Tage, nachdem die DDR untergegangen war, kam es zu der Entscheidung, dass eines der beiden Adressbücher zu verbrennen sei. Dieses war ein bitterer Schritt und ein extrem harter Einschnitt. Und dennoch war auch das die richtige Entscheidung, denn jene Menschen, die auch nach dieser Zeit wirklich einen Kontakt gesucht hatten, blieben nach wie vor im Umkreise des persönlichen Umfeldes wichtige Gesprächspartner. Aber die vielen anderen, auf die ich jetzt angesetzt worden wäre... was wäre mit ihnen geschehen, in welcher neuen Position hätte ich auf sie Einfluss nehmen müssen?

Darüber nach so vielen Jahren - und sei sie nur in diesen wenigen Anmerkungen - zu sprechen, fällt nicht leicht. Zu bitter sind jene Erfahrungen aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR, zu zaghaft waren die Versuche, aus diesem Desaster Produktivfunken schlagen zu können. Das führte so weit, dass selbst eine der wichtigsten Figuren, die für die kommerzielle Abwicklung der DDR zuständig war, nach ihrer Nominierung als Chefin der Weltausstellung in Hannover trotz einer Empfehlung des späteren Bundeskanzlers nicht zu meiner neuen Arbeitgeberin wurde... weil ich ihr Wirken in den vorangegangene Strukturen und die daraus resultierenden Folgen auch in der neuen Aufgabe nicht so hätte so leicht vergessen, geschweige denn verzeihen, können.

Der in späteren Jahren immer wieder, zum Teil sogar als Kompliment erfolgte Hinweis, dass diese Jobs damals eher an die Leute aus der zweiten und dritten Riege vergeben worden seien, während die wahre Führungs-Mannschaft nach wie vor in der BRD geblieben wäre, war nicht unbedingt tröstlich oder gar hilfreich. Es mag ja sein, dass die in der BRD erfahrenen Repressalien - Stichwort Berufsverbot - weniger existenzgefährdend gewesen waren, als das, was die Folgen eines offenen Denkens und Redens in der DDR hätten sein können... aber dann ist es mir nicht einmal gelungen, zuvor in die DDR transferiertes Westgeld nach dem Zusammenbruch mit einer hohen Gewinnmarge wieder in die D-Mark zurück zu verwandeln. Dieses nicht getan zu haben, war nicht so sehr einer möglichen Feigheit oder übertriebenen Anständigkeit zuzuschreiben, sondern geschah aus Respekt gegenüber all den erlebten Querelen und Qualen, die die Menschen in jenem anderen Teil Deutschlands zuvor zu ertragen hatten.

Ohne all dies hier noch weiter ausbreiten zu wollen, kann ich nur davon berichten, dass der Autor dieser Zeilen in all den nachfolgenden Jahren an der Aufarbeitung dieser Ost-West-Verhältnisse selbst wenig beigetragen hat. Dabei gibt es bis heute eine seltsame identitätsstiftende Atmosphäre, die rasch bis heute immer wieder aufkommt in der Begegnung mit Menschen "aus dem Osten", auch wenn ich sie zuvor gar nicht kennengelernt hatte. Dieses erfüllt mich mit einer gewissen inneren, wenn auch eher klammheimlichen Freude, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass es eigentlich nicht wirklich gelungen ist, diese Ambivalenz entweder abgeschüttelt noch komplett aufgearbeitet zu haben.

Aus ebendiesem Grunde bleiben Feierstunden, wie diese jetzt in Schwerin, weitgehend außen vor und ermöglichen es stattdessen, in diesen Stunden tatsächlich einen freien Tag erleben zu können. Bis zum Abend, wo durch Zufall auf dem Sender 3 sat der Film "Good Bye Lenin" gezeigt wird. Ich sehe ihn zum ersten Mal - und es ist fast nicht auszuhalten, wie hier versucht wird, zum Wohle eines sterbenskranken Menschen ein patiomkinsches Dorf mit all seinen Requisiten und Statisten wiederherstellen zu wollen. Als der Film damals Premiere hatte und vor allem in der BRD sein Publikum fand, wurde das Ganze als Komödie gepriesen und rezipiert. In der eigenen Erfahrung dieses Abends aber bereitet das Ganze erneut einen tiefen Schmerz, der in dann in den flachen Gewässern dieser gut gemachten Unterhaltung trotz oder gerade wegen ihrer gelungenen Umsetzung zum individuellen Untergang verurteilt ist.

Es ist wahr, dass das Wohlergehen des sozialistischen Staatsbürgers genauso wie der sozialistischen Staatsbürgerin auch darin bestand, dass er oder sie nur höchst selten gezwungen war, bis in die existenzielle Tiefe der eigenen Existenz zu schauen, um nach der eigenen Wahrheit und Wirklichkeit zu fragen. Eine der wenigen Spielorte, an denen dieses damals möglich war, war in der Tat das Theater - und in gewissem Umfang auch der Film. Mit diesen Menschen dort gemeinsam zu arbeiten, war daher eine besondere Herausforderung aber auch eine besondere Freude, da wir immer wieder Möglichkeiten und Mittel fanden, auf der scharfen Klinge der Dialektik unserer eigenen Gegendwarten neu zu prüfen, zu referenzieren und in vielerlei Gestalt abzubilden.

Sich solche Freiheiten herausnehmen zu können ohne dafür gleich mit dem Berufsverbot bestraft zu werden, war eine eben so heikle wie aber auch herausfordernde Aufgabe. Ja, es gab Filme, die dann nach ihrer Fertigstellung nie zu Zeiten der DDR haben gezeigt werden dürfen. Ja, es gab Theaterstücke, in den die Wahrheit immer erst und nur á la cantonade hat vermittelt und verbreitet werden können. Und dennoch hatten wir auf diesen Brettern und in diesem Zelluloidstreifen eine Welt vor Augen, die weit über die ideologischen Grenzen des jeweiligen Regimes hinausragten, hinausreichten und gelegentlich auch hinaus führten.

Eine Erfahrung, die bis in das eigene auch berufliche Feld hineinragte, das am Ende meiner Zeit in der DDR zu einem Engagement als Dramaturg an das Berliner Ensemble führte. Dieses wurde dann aber immer wieder auf einer höheren Ebene zunächst der Kultur und dann des Staates verhandelt und letzten Endes in einer geheimen Staatsratssitzung gekippt und damit aufgehoben.

Damit waren alle weiteren beruflichen Aussichten zu einem angemessenen Facharbeiterlohn in der DDR weiterleben zu können, ausgeträumt. Aber auf der anderen Seite hätte auch eine Rückkehr in die BRD nicht mehr mit attraktiven Berufschancen verbunden werden können – eben wegen dieser DDR-Vergangenheit.

Das Ziel hieß damals Exil - und so wurde Frankreich eine neue Heimat.

Heute lebe ich wieder in Berlin, aber immer noch erlebe ich beim Durchqueren der Stadt jeden Grenzübergang, an dem ich damals mehr oder weniger lange aufgehalten, geprüft, gefilzt und einmal auch verhaftet wurde, bevor ich dann den Weg in die jeweils anderen Teil der Stadt habe fortsetzen können.

Zu guter letzt sei noch davon berichtet, dass auch die Protokolle der Staatssicherheit über meine Person nach deren Freigabe zunächst lange nicht das eigene Interesse geweckt hatten, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es darum ging nachzuweisen, dass meine Mitgliedschaft im Vorstand des Deutschen Journalistenverbandes in Berlin nicht während oder durch die Tätigkeit in der DDR hätte infrage gestellt werden können. Dieses wurde zum Zeitpunkt, als jene Fragen an alle Vorstandsmitglieder gestellt wurden, unumwunden deutlich gemacht und publiziert. Auch an dieser Stelle, auf dieser Plattform und für alle Menschen, die sich darüber informieren wollten: "Transparenzgebot: In eigener Sache".

Der erste Eintrag war damals eine Notiz im Postkartenformat, auf der das Kennzeichen meines blauen Volkswagens eingetragen war, mit dem ich jeweils die Grenzen habe überfahren können - der letzte Eintrag in diesem Dossier waren russischer Sprache und von einem Computer geschrieben: das Thema der Digitalisierung, das mich seit dem in immer wieder neuen Facetten in Atem gehalten aber auch von mir umgesetzt wurde, fand schon damals seine erste und bis heute immer noch nachhaltig wirkende Umsetzung.

Ende dieses Protokolls, das am Ende dieses Tages über ein Mikrofon direkt in den Rechner diktiert und dann auf diesem nachkorrigiert wird – allerdings nicht, um einen Teil dieses Kommentars wieder ungeschehen zu machen, sondern ausschließlich dafür, um die Verständlichkeit dieser Zeilen zu erhöhen.

In der Hoffnung dass dieses gelungen ist, verbleibe ich bei allen meinen Leserinnen und Lesern mit mehr als nur freundlichen Grüßen
Ihr/ Euer Wolf Siegert.

P.S.

Als Ergänzung, Gegengewicht, oder was auch immer, der Verweis auf zwei Deutschlandradiosendungen, die in diesem Zusammenhang Sinn machen könnten.

In den Kulturfragen spricht Henry Bernhard am 03. Oktober 2024 ab 17:05 Uhr mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk: Deutsche Einheit. Historiker fordert mehr Verantwortungsübernahme von Ostdeutschen.
Er sähe, so die Redaktion "...Nachholbedarf in Ostdeutschland: Die Zivilgesellschaft sei nach wie vor schwach entwickelt. Das müsse sich ändern. Er warnt CDU und SPD zudem vor Koalitionen mit AfD oder dem Bündnis Sarah Wagenknecht."

Am Folgetag, den 4. Oktober 2024, wird sowohl im Deutschlandfunk als auch zuvor auf Deutschlandfunk Kultur dieser szenische Eindruck aus Schwerin von Silke Hasselmann geschildert:
Deutsche Einheit – wie Schwerin das Bürgerfest gefeiert hat.


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