Die 3. Kerze gegen den Sieg der Dummheit

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 21. Dezember 2022 um 20 Uhr 28 Minuten

 

Würde das nächste Buch nicht in einem Wissenschaftsverlag erscheinen, würde an diesem ersten Arbeitstag an diesem neuen Werk - Arbeitstitel: Beyond Digital - so eingeleitet werden

Nachdem sich der Verlag entschieden hat, in Zukunft nicht ’nur’ für Bibliotheken, sondern auch für Entscheidungsträger in der Politik, Wirtschaft und Verwaltung zu publizieren [1] ist es an der Zeit, die alltägliche Arbeit immer wieder mit den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen abzugleichen.

Die aktuelle Herausforderung dieses Tages lässt sich mit dem Stichwort "Dummheit" zusammenfassen.

Den jungen Frauen in Afghanistan war es schon bisher verwehrt, weitergehende Schulen zu besuchen. Ab heute ist ihnen auch der Besuch jeglicher Universitäten in ’ihrem’ Land untersagt, der Öffentlichen wie der Privaten. [2].

Und am selben Tag erklärt sich der Twitter-Eigner Musk bereit, seinen Chef-Posten zu räumen [3], sobald sich - nach seinen Worten - jemand finden liesse, der "dumm" genug sei, diesen Teil der Aufgabe für ihn zu übernehmen [4].

Wenn das ab heute im Entstehen begriffene Buch schon erscheinen würde, wäre in Deutschland darauf zu verweisen, dass hier mehr als zehn Frauen - pro Stunde (sic!) - (häusliche) Gewalt erfahren und ein Viertel aller Vierklässler(Innen) in Deutschland über eine gehöriges Maass an Schreib- und Rechenschwäche verfügen. Weiters wäre europaweit anzumerken, dass zum Ende des Jahrzehnts fast keines dieser Länder mehr zu den zehn wichtigsten Wirtschaftsmächten der Welt gehören wird.

Die Fragen, die sich für ein solches Buch stellen, sind daher ebenso systemischer wie auch ganz praktischer Art: Erscheint so ein (Ge-)Werk noch in einer Zeit, wo das Lesen noch geholfen hätte, wo Texte von mehr als wenigen Seiten überhaupt noch rezipiert werden, wo Videos und Lern-Spiele all das Schriftliche haben obsolet werden lassen, wo ...

Macht Digitalisierung also dumm? Und was kommt danach? Wissenschaft ohne Vernetzung - undenkbar. Und Wissenschaft ohne Netz? Was vielen nicht klar ist: dass heute Texte dadurch so kurz werden, da es in den Kriegsgebieten keinen Strom mehr gibt, um längere zu verfassen, da die Rechner nicht mehr in den stetigen Ablauf der Updates und Upgrades eingebunden werden können, dass so die Menschen unter der Last des "publish or parish"-Gebotes immer weniger dazu kommen können, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren [5], da ...

Wir wissen, dass wahrlich erlittene Krisen sehr viel mehr Wirkung zeitigen als die Warnungen davor, dass sogenannte Schicksalsschläge" mehr bewirken als die Androhung von gesellschaftlich oder persönlich wirksamen Nachteilen, dass ein schweres Buch, das uns auf den Kopf fällt, mehr Wirkungen zeigt als einer seiner schwerwiegendsten Sätze darin...

Wir wissen also, dass die persönliche Not - aber auch Freude - ein Buch zu schreiben vernachlässigbar sein kann im Vergleich zu der Notwendigkeit für die Vermittlung seiner Inhalte Sorge zu tragen. Damit kommt den Verlagen in einer Zeit, in der jede und jeder von uns sich jederzeit weltweit zu Wort melden kann, nicht nur eine ganz besondere Herausforderung zu, sondern auch eine ganz besondere Verpflichtung.

Der Zwang, wirtschaftlich handeln zu müssen und der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichtet zu sein, stehen sich ebenso als gegenseitig wirkende Booster wie auch als Antipoden Seite an Seite. Die Wahrheit zu sagen - oder auch nur der Versuch, in seinen Texten um diese zu kämpfen - ist kein Garant für den wirtschaftlichen Erfolg, sprich für hohe Absatzzahlen. Aber vielleicht will man ja auch nicht ’die Vielen’, sondern ’die Richtigen’ erreichen.

Aber sind nicht wir alle ’die Richtigen’? Menschen,
 die wissen wollen, wie sie auf ihre / auf die gesellschaftliche Zukunft Einfluss nehmen können
 die es vermögen, einen solchen Einfluss geltend zu machen
 die sich der Verantwortung ihres Handelns bewusst sind, ohne dadurch die ihnen zugedachte Kompetenz auszuschlagen
 die davon profitieren, dass ihnen im Leben nichts geschenkt wurde und sich dennoch über Geschenke zu freuen vermögen
 die sich bei allem Bemühen um Ehrlichkeit und Geradlinigkeit nicht aus der Bahn werfen lassen, wenn es "erstens anders kommt und zweitens, als man denkt"
 die vor Zufällen keine Angst haben, sondern als Qualität zu nutzen verstehen ("Serendipität")
 die um den Wert der Zeit wissen, den Geldwerten ebenso wie den ihrer eigenen Lebenszeit
 die ’den Anderen’ - selbst den Feind - immer auch als Teil des eigenen Selbst zu verstehen gelernt haben
 die im Kleinen das Grosse entdecken und im Grossen auch die Kleinen zu fördern vermögen
 die das Einfache, das Schöne, ja, das Vollkommene lieben, vor allem wenn es, durch die Mühen der Ebenen gezerrt, als Höhepunkt erlebbar gemacht werden konnte...

Auch wenn all das hier an einem ersten Tag kursorisch Aufgezeichnete noch nicht der Leitfaden für ein Vorwort des neuen Buches gelten mag, so ist es doch der erste von einer Reihe weiterer Versuche (bei Brecht gab es derer 37 in 15 Heften) um zu ergründen, warum und wie sich die erworbene Einsicht in die möglichen Zukünfte - nicht nur unserer Existenz, sondern auch unserer Kinder und Kindeskinder - zu ermitteln und zu vermitteln vermag: in einem Buch, das stärker ist als ein Videospiel und spannender, als es serious games je sein könnten.

WS.

Anmerkungen

[1Wobei nicht behauptet werden soll, dass diese Menschen noch nie in einer Bibliothek gewesen seien (sic!)

[2Hier ein tagesschau-Screenshot vom darauffolgenden Mittwoch, den 21. Dezember 2022:

[3Womit er aber dennoch die Macht in diesem Hause behält und weiter ausüben kann (sic!)

[4

[5SJL schreibt:

Von der Mehrzahl der Werke bleiben nur die Zitate übrig. Ist es dann nicht besser, von Anfang an nur die Zitate aufzuschreiben?


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