Bundesversammlung: Mehr als Sonntagsreden

VON Dr. Wolf SiegertZUM Sonntag Letzte Bearbeitung: 18. Februar 2022 um 13 Uhr 26 Minutenzum Post-Scriptum

 

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Begrüßung der 17. Bundesversammlung

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bitte nehmen Sie Platz.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Büdenbender,
verehrte Repräsentanten der Verfassungsorgane,
sehr geehrte Frau Präsidentin Süssmuth,
sehr geehrte Mitglieder der 17. Bundesversammlung,
sehr geehrte Damen und Herren,

Ich begrüße Sie zur 17. Bundesversammlung. An ungewohntem Ort, in schwierigen Zeiten. Nichts ist dieser Tage normal.

Umso mehr freue ich mich, Sie heute hier im Paul-Löbe-Haus zur Wahl unseres Staatsoberhauptes willkommen zu heißen!
Wir haben strenge Vorkehrungen zu Ihrem Schutz getroffen. Denn das Virus verbreitet sich weiter. Die Pandemie bedroht vor allem ohnehin geschwächte, besonders verletzliche Menschen.

Befallen hat sie dieses Land im doppelten Sinn: Scheinbar unversöhnlich stehen sich Menschen gegenüber, die unterschiedliche Einstellungen haben. Die Stimmung im Land, in Familien und Freundeskreisen leidet darunter. Dagegen hilft kein Impfstoff.

Polarisierung gab es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder. In dieser Krise scheint unserer Gesellschaft aber viel Verbindendes verloren zu gehen. Auch das Vertrauen in unsere eigene Kraft.

Viele bezweifeln, dass wir unsere Probleme in den Griff bekommen. Sie trauen der Politik und den staatlichen Institutionen wenig zu. Sie fühlen sich ohnmächtig.

Es gibt Gründe dafür: Im Kampf gegen das Virus haben wir immer wieder Rückschläge erlebt.
Wir tun uns schwer mit der Einsicht, dass auch Fachleute noch immer nicht das eine, garantiert wirksame, Rezept gegen die Pandemie kennen.
Dass die Politik Entscheidungen trifft und sie später korrigieren muss.

Der notwendige, sachliche Dialog über Lösungsansätze und politische Entscheidungen wird durch Hass und Hetze erschwert.
Schlimmer noch sind Gewaltaufrufe oder gar Gewaltausbrüche.

Und das ist wahrlich nicht alles: Wir alle machen uns große Sorgen um den Frieden Mitten in Europa. Die Lage in der Ukraine nimmt eine Entwicklung, die wir uns alle noch vor kurzem nicht hätten vorstellen können. Mehrere Staaten haben ihre Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, das Land zu verlassen, so gestern auch die Bundesregierung.

Nie wieder Krieg – das war für uns Europäer die Lehre aus zwei verheerenden Weltkriegen. Wir sind zum Frieden verpflichtet.

Wir alle bleiben täglich dazu aufgerufen, ihn zu bewahren, Trennendes zu überwinden und Konflikte zivilisiert auszutragen. Nutzen wir alle Möglichkeiten der Diplomatie, um die Gefahr eines Krieges zu bannen. Jeder Krieg kennt nur Verlierer!

Als ob dies nicht genug wäre, sorgen wir uns auch um die enormen Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt. Die Migrationsbewegungen stellen die Weltgemeinschaft vor eine Jahrhundertaufgabe. Und auch in ihrem Alltag blicken viele mit Sorge auf die Inflation und steigende Energiepreise. Nicht wenige fragen sich, wie sie diese zusätzlichen Belastungen schultern sollen. Und auch die Entwicklung innerhalb der Europäischen Union gibt einigen Anlass zur Sorge.

Aber: Sind wir den Problemen dieser Zeit wirklich ausgeliefert? Haben wir keine Möglichkeit, voranzukommen?

Natürlich kann auch ich jetzt nicht den Ausweg aus allen Krisen weisen. Sie alle dürfen aber erwarten, dass ich uns Mut mache. Und das mache ich aus vollster Überzeugung.

„Die Tugend des Mutes ist unterbewertet, weil es uns seit Generationen sehr gut geht“, sagt der frühere Bundespräsident Joachim Gauck.

Schauen wir zurück: Hatten es andere Generationen leichter? Wohl kaum.

Jede Zeit stellt neue Aufgaben. Mit jedem Schritt vorwärts sind Risiken verbunden. Jede Entwicklung löst Nebenwirkungen aus – vorhersehbare und unvorhersehbare.

Trauen wir uns dennoch Veränderung und Fortschritt zu!
Machen wir uns klar, dass Furcht nicht weiterhilft. Stellen wir uns der Zukunft!
Lassen wir uns nicht einreden, dass wir die anstehenden Probleme nicht lösen können.

Im Gegenteil: Wir können und wir werden diese Herausforderungen meistern.

Denn Deutschland hat eine starke und bewährte Verfassung. Das Grundgesetz führt uns heute in dieser Bundesversammlung zusammen! Gewählte Abgeordnete – die 736 Mitglieder des Deutschen Bundestages – und ebenso viele Vertreterinnen und Vertreter der 16 Bundesländer. Das spiegelt die föderale Ordnung unseres Landes wider. Es ist gute Tradition: Neben den Parlamentsmitgliedern entsenden die Länder verdiente Bürgerinnen und Bürger, die kein Mandat in einem Parlament haben:

Ich sehe zwei Sportlerinnen mit Behinderung, eine Verlegerin und einen Fußballprofi. Gleich mehrfach vertreten sind Branchen, denen die Pandemie besonders viel abverlangt: die Pflege, die Medizin und die Virologie. Auch das Friseurhandwerk!
Unter uns sind ein großer Pianist, eine erfolgreiche Impfstoffentwicklerin und eine verdiente vormalige Bundeskanzlerin.

Liebe Frau Dr. Merkel, ich begrüße Sie stellvertretend für alle Mitglieder dieser Bundesversammlung!

Ich freue mich sehr, dass Sie alle angereist sind, um unser Staatsoberhaupt zu wählen.

Ich möchte allen, die diese besonders aufwändige Bundesversammlung mit viel Umsicht geplant haben und perfekt organisieren, herzlich danken!
 Ob für den Aufbau hier im Paul-Löbe-Haus,
 für die Sicherheit im Hause,
 für die Begleitung der Delegierten,
 für die Unterstützung der Medien
 oder für die Arbeit in den Testzentren.
Überall braucht es Helferinnen und Helfer – vielen Dank an Sie alle!
Diese Sitzung zeigt: Auch unter erschwerten Bedingungen erfüllen wir den Auftrag des Grundgesetzes. Unser Staat funktioniert – auch in schwieriger Zeit.

Für die Wahl des Staatsoberhauptes haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes genau dieses Verfahren eingeführt. Anders als die Parlamente stimmt die Bundesversammlung ohne Aussprache, ohne vorausgehende Wahlkampfreden, ab. Das unterstreicht die herausgehobene, überparteiliche Rolle des Amtes.

Der parlamentarische Alltag dagegen braucht die Debatte. Und auch den Widerspruch. Bevor Entscheidungen fallen, müssen Argumente ausgetauscht, Alternativen diskutiert, Kompromisse ausgehandelt werden. Das ist anspruchsvoll, denn unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger.
Und es kann nur gelingen, wenn sich alle an die Spielregeln halten und bereit sind, die mit Mehrheit getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.

Doch wir dürfen schon fragen, ob wir jeden Streit aushalten müssen?

Ich wünsche mir eine zivilisierte Auseinandersetzung und einen respektvollen Umgang miteinander. Wir merken doch, dass Anschuldigungen nichts bringen – von gewaltsamen, strafbewährten Übergriffen gar nicht zu reden. Jeder hat das Recht, politische Vorhaben zum Klimaschutz für zu schwach zu halten – oder Corona-Maßnahmen für zu streng. Wer sich an das Recht hält, darf demonstrieren und seine Meinung äußern. Aber: Wer für sich selbst ein eigenes Recht beansprucht, das Recht auf die alleinige Wahrheit, setzt sich ins Unrecht. Das gilt natürlich auch im Netz, wo zunehmend Hemmungen wegbrechen.

„Der Andere kann auch Recht haben“. Rita Süssmuth hat diesen Satz oft wiederholt. Er sagt sich leicht. Schwer ist es, danach zu handeln. Erst recht, wenn widerstreitende Positionen verhärtet sind, Weltbilder verfestigt und trennende Lebenserfahrungen prägend.

Die aktuelle Zuspitzung in den Debatten zeigt mir: Wir brauchen eine größere Offenheit. Die Mehrheit hat nicht automatisch Recht – die Minderheit aber auch nicht. Alle müssen sich bewegen, aufeinander zugehen. Wer Gegenpositionen einfach abtut, macht es sich zu leicht. Niemand ist im Besitz der einzig richtigen Lösung.

Wir sollten den Wettbewerb der Argumente zulassen. Und den Bürgerinnen und Bürgern noch mehr zuhören. Das kann die Debatte in der parlamentarischen Demokratie nur bereichern.

Die Bürgerräte sind nur ein Beispiel dafür, wie ein konstruktiver und lebendiger Austausch zwischen der Politik und der Bevölkerung funktionieren kann. Und die gesellschaftliche Debatte an Breite gewinnt.

Wichtig ist, die Meinungen und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger auch ernst zu nehmen. Anderenfalls wachsen Unmut und Unzufriedenheit.

Die Demokratie lebt nicht aus sich heraus oder weil sie auf dem Papier steht. Sie lebt von Gemeinsinn und Offenheit. Akzeptanz erfährt die Politik, wenn wir uns daran orientieren. Wir werden niemals die Wünsche aller erfüllen können. Aber wenn wir vorankommen wollen, müssen wir offen sein für neue Perspektiven – in den Kommunen wie auf Landes- und Bundesebene.
Auch Kritik ist notwendig und sinnvoll, wenn sie konstruktiv ist.

Stellen wir, die politisch Verantwortlichen, uns ernsthaft genug die Frage, warum Zweifel an unserem Tun und an den Institutionen unseres Staates wachsen?
Sind wir in der Lage, ehrlich zu antworten?
Oder gehen wir gleich in eine Verteidigungshaltung?
Es gibt leider immer wieder Grund, das Fehlverhalten Einzelner anzuprangern. Wenn zum eigenen Vorteil die Grenzen der Legalität bis ins Letzte ausgereizt oder sogar überschritten werden.

Dennoch: Die allermeisten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes sind aufrichtig und wollen ihrer Aufgabe gerecht werden. So wie die Bürgerinnen und Bürger in ihrem jeweiligen Lebensumfeld auch.

Zu Recht ärgern sie sich über Unzulänglichkeiten, wie sie jetzt in der Pandemie zutage treten: von der ungenügenden Ausstattung vieler Schulen bis zu unzumutbaren Bedingungen in der Pflege – unter denen das Pflegepersonal, die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen leiden.
Doch trotz vieler Missstände sollten wir nicht gnadenlos im Urteil sein. Gnadenlosigkeit führt zu einer gefährlichen Haltung gegen alles und jedes. Sie vergiftet die gesellschaftliche Auseinandersetzung und lähmt die Suche nach Lösungen für vertrackte Probleme. Sie nimmt uns die notwendige Energie, um aus verfahrenen Situationen herauszufinden.

Besinnen wir uns darauf, dass wir in der Vergangenheit immer wieder Trennendes überwunden haben – zwischen einzelnen Menschen mit unterschiedlicher Weltanschauung und Herkunft. Misstrauen zwischen Generationen. Sogar die Feindschaft zwischen Völkern.

Das zeigt die Geschichte dieses Tages:

Am 13. Februar 1945 wurde das historische Dresden zerstört. Viele, viele Tausend Menschen verloren ihr Leben. Mit diesen Toten, mit dem verheerenden Bombardement, mit dem Leid der Davongekommenen wurde immer wieder Politik gemacht. Bereits im Zweiten Weltkrieg. Und erst recht danach. Die Propaganda endete auch nicht mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Weiter wurde versucht, die Millionen Opfer des verheerenden Weltkrieges, der von Deutschland ausgegangen war, gegeneinander aufzurechnen.
Revisionistische Gedanken zu verbreiten. Deutsche Schuld klein zu reden. Sogar im Verhältnis zu den Millionen Opfern der Shoa.

Wir leben seit fast 77 Jahren in Frieden. Die Europäische Union gründet auf Versöhnung. Daran zu erinnern ist weit mehr als ein Ritual für feierliche Anlässe wie diesen. Aber auch in der Europäischen Union wird über Grundwerte, Fragen der Rechtsstaatlichkeit und das gestritten, was Solidarität konkret bedeutet.
Bei allem, was uns heute entzweit, sollte uns eines zusammenhalten: Die Verpflichtung, Frieden und Demokratie zu bewahren, Trennendes zu überwinden und die Gemeinschaft in unserem europäischen Haus zu stärken. Wir haben gute Voraussetzungen dafür!

Mit gleicher Tatkraft und mit gleichem Mut müssen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land fördern. „Wenn wir einander achten und aufeinander achten“, wie der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau es formuliert hat.

Rau wusste, dass darin die entscheidende Aufgabe der Bundespräsidenten liegt: im Zusammenführen. Ihre Machtbefugnisse sind beschränkt. Aber über die Macht des Wortes verfügen unsere obersten Repräsentanten uneingeschränkt. Begegnungen und Austausch sind ihre Formate. Sie können in ihrem Amt versöhnen.

Halten wir zusammen! Suchen wir das Verbindende. Setzen wir da an, wo wir etwas bewegen können – jede und jeder von uns. Zusammen mit dem Staatsoberhaupt, das zu wählen jetzt die Aufgabe aller Anwesenden ist.

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur 17. Bundesversammlung

Ich danke Ihnen! Ich danke für das Vertrauen derer, die mich gewählt haben. Und ich bitte um das Vertrauen derjenigen, die es nicht getan haben. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein überparteiliches und so werde ich es weiterführen. Meine Verantwortung gilt allen Menschen, die in unserem Land leben. Überparteilich, ja – aber ich bin nicht neutral, wenn es um die Sache der Demokratie geht. Wer für die Demokratie streitet, hat mich an seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben!

Dass Sie mir dieses Amt für weitere fünf Jahre anvertrauen, bewegt mich sehr. Es ist mir eine Ehre und eine Freude. Meine Freude aber wäre größer, wenn die Bundesversammlung unter anderen Bedingungen stattfinden könnte, ohne die Beschränkungen der Pandemie. Und mehr noch: Meine Freude wäre größer, wenn unsere Versammlung nicht in eine Zeit der Sorge fiele, Sorge um den Frieden in Europa.

Die Abwesenheit von Krieg auf unserem Kontinent war uns zur Gewohnheit geworden – geschützt von Freunden, in Frieden mit den Nachbarn, seit über dreißig Jahren wiedervereint. Welch ein Glück für unser Land! Doch in diesen Tagen lernen wir neu, was wir hätten wissen können: Frieden ist nicht selbstverständlich. Er muss immer wieder erarbeitet werden, im Dialog, aber wo nötig, auch mit Klarheit, Abschreckung und Entschlossenheit. All das braucht es jetzt.

Zur Klarheit gehört eines: Man mag viel diskutieren über die Gründe für wachsende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Dafür trägt Russland die Verantwortung!

Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen. Das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein. Aber die Menschen dort haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung, auf Selbstbestimmung und Souveränität. Kein Land der Welt hat das Recht, das zu zerstören – und wer es versucht, dem werden wir entschlossen antworten!

Nicht nur in der Ukraine, in vielen Ländern Osteuropas wächst die Angst. Deshalb stehen wir an der Seite der Esten, der Letten und Litauer; wir stehen gemeinsam mit Polen, Slowaken und Rumänen und allen Bündnispartnern: Sie können sich auf uns verlassen. Deutschland ist Teil der NATO und der Europäischen Union. Ohne sie würden wir Deutsche heute nicht in Einheit und Freiheit leben. Das vergessen wir nicht. Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu unserer Bündnisverpflichtung.

Verehrte Delegierte, unsere Gemeinschaft ist die Gemeinschaft liberaler Demokratien, die die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt. Ich weiß wohl: In den Augen von autoritären Herrschern gelten demokratische Institutionen als schwach. Dort, wo alle Macht in einer Hand konzentriert ist, verachtet man eine Versammlung wie diese als belangloses Ritual. Dort gelten demokratische Entscheidungsprozesse als Schwäche, das Recht als Bremsklotz, das Bemühen um Freiheit und Glück der Bürgerinnen und Bürger als naiv. Aber ich kann Präsident Putin nur warnen: Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!

Unsere Demokratie ist stark, weil sie getragen wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern. Weil sie ihre Kraft nicht mit Unterdrückung, nicht mit Drohungen nach außen und Angst im Inneren erkauft. Weil sie den Menschen mehr zu bieten hat als Ideen von nationaler Größe und Herrschaft über andere.

Demokratien sind nicht alle gleich, aber sie sind einander im Inneren verwandt. Und auch dies verbindet uns: Wir suchen nicht die Konfrontation nach außen. Das ist die gleichlautende Botschaft aus Washington, Paris und Berlin: Wir wollen friedliche Nachbarschaft in gegenseitigem Respekt. Bald jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki: Möge dieser Jahrestag nicht der Anlass sein, an dem wir uns in Ost und West das Scheitern der Bemühungen um dauerhaften Frieden in Europa eingestehen müssen. Arbeiten wir im Gegenteil für die Erneuerung dieses Erbes. Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Und suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!

Unsere Demokratie ist stark – und auch die heutige Versammlung ist ein selbstbewusster Ausdruck dieser Stärke. Schauen Sie sich um in dieser großen Runde: Dass Sie alle heute hier sind, aus allen Teilen unseres Landes, allen Widrigkeiten der Pandemie zum Trotz, das zeigt: Wir achten unsere demokratischen Institutionen. Wir wissen, dass diese Demokratie von der Vielfalt lebt, die Sie heute repräsentieren.

Und diese Versammlung zeigt noch etwas: Es gibt in unserem Land, jenseits der Logik von Regierung und Opposition, eine breite Mehrheit für die Stärkung unserer Demokratie. Das ist Ihr Auftrag. Dafür will ich mein Bestes geben!

Ich will an dieser Stelle meinen Respekt ausdrücken für meine Mitbewerberin und Mitbewerber in dieser Wahl. Gestatten Sie mir, sehr geehrter Professor Trabert, noch ein zusätzliches Wort. Sie haben mit Ihrer Kandidatur auf ein Thema aufmerksam gemacht, das mehr Aufmerksamkeit verdient: die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten in unserem Land. Dafür gebührt Ihnen nicht nur Respekt, sondern ich hoffe, dass Ihr Impuls erhalten bleibt. Das Thema Obdachlosigkeit beschäftigt uns beide – Sie wissen es – seit langer Zeit. Warum schauen wir nicht, ob wir diesem drängenden Thema gemeinsam mehr Aufmerksamkeit verschaffen können? Ich würde mich freuen, wenn wir darüber ins Gespräch kommen.

Verehrte Delegierte, unterschätzen wir nicht die Stärke der Demokratie. Aber unterschätzen wir auch nicht die Herausforderungen, vor denen sie steht! Gegner der Demokratie, von außen und von innen, säen in der Pandemie Zweifel an unserer Handlungsfähigkeit und unseren Institutionen, an der freien Wissenschaft und den freien Medien.

Ja, es stimmt: Unser Weg heraus aus der Pandemie ist kein geradliniger. Es gab Fehler und Fehleinschätzungen, auch bei uns. Aber man zeige mir ein autoritäres System, das besser durch die Pandemie gekommen wäre! Oder haben sich die selbsternannten starken Männer in aller Welt nicht in Wahrheit selbst entzaubert in dieser Krise? Standen die Kaiser mit ihren protzigen Kleidern, mit ihren Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien, nicht ziemlich nackt da? Der entscheidende Durchbruch im Kampf gegen die Pandemie, die Impfstoffentwicklung in Rekordzeit – der gelang hier, in der freien Wissenschaft, dank brillanter Forscherinnen und mutiger Unternehmer, hier in Mainz, in Deutschland, mit unseren Partnern in Europa und den USA. Wir sollten, bei aller Selbstkritik, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen!

Wenn ich auf unser Land blicke, dann sehe ich Menschen, die sich Monat für Monat durch diese Pandemie kämpfen – und zwar nicht, weil sie mit eiserner Hand dazu gezwungen werden. Sondern weil sie immer wieder selbst darum ringen, das Richtige zu tun, durchzuhalten, anzupacken! Die übergroße Mehrheit in unserem Land handelt verantwortungsvoll und solidarisch – seit zwei langen Jahren, die sich für viele anfühlen wie eine Ewigkeit. Als Ihr alter und Ihr neuer Bundespräsident möchte ich Ihnen von Herzen danken für diesen großen, gemeinsamen Kraftakt!

Aber – wir spüren auch das andere. Wir spüren: Nach zwei Jahren Pandemie macht sich Frust breit, Enttäuschung, Gereiztheit. Wir haben uns aufgerieben im Streit um den richtigen Weg, im Streit weit über die Politik hinaus, in den Betrieben und an den Schulen, unter Freunden und Kollegen, bis hinein in jede Familie. Die Pandemie hat tiefe Wunden geschlagen in unserer Gesellschaft. Ich möchte dabei helfen, diese Wunden zu heilen.

Aber denen, die Wunden aufreißen, die in der Not der Pandemie Hass und Lügen verbreiten, die von „Corona-Diktatur“ fabulieren und sogar vor Bedrohung und Gewalt nicht zurückschrecken, gegen Polizistinnen, Pflegekräfte oder Bürgermeister – denen sage ich: Ich bin hier und ich bleibe! Ich werde als Bundespräsident keine Kontroverse scheuen, denn ohne Kontroverse keine Demokratie. Aber es gibt eine rote Linie und die verläuft bei Hass und Gewalt!

Ich fürchte, die Gegner der Demokratie werden nach der Pandemie nicht leiser werden, sie werden sich neue Themen suchen und vor allem neue Ängste, von denen es reichlich gibt in dieser Zeit: Werden unsere Kinder noch denselben Lebensstandard haben wie wir heute? Kann ich Schritt halten mit dem Lauf der digitalen Welt? Fällt unser Land hinten runter im globalen Wettbewerb? Solche Sorgen sind Nährboden für die, die mit der Angst ihr politisches Geschäft betreiben. Und ich fürchte, sie tun es auch mit dem großen Thema unserer Zeit: dem Kampf gegen den Klimawandel. Diese große Aufgabe, die Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebensweise auf unserem Planeten, die sucht kein Land, keine Regierung sich einfach aus. Sie ist nicht weniger als die Überlebensfrage der Menschheit.

Und diese Aufgabe bringt uns in eine Epoche des Aufbruchs und des Umbruchs. Mehr Aufbruch, hoffen manche; mehr Umbruch, fürchten andere. Ich bin überzeugt: Wenn wir aus den großen Umbrüchen einen gemeinsamen Aufbruch machen wollen, dann geht das nicht durch staatliche Verordnung allein. Dann müssen wir Brücken bauen! Brücken zwischen den Generationen; zwischen den Alteingesessenen und denen, die neu hinzukommen; Brücken zwischen Start-Up und Hochofen; zwischen Großstadt und plattem Land; zwischen den Gesprächen in der Kneipe und denen in Brüssel und Berlin. Kurzum: Brücken in Richtung Zukunft, die breit und stark genug sind, dass wirklich alle darüber gehen können.

Dafür will ich arbeiten! Und ich will das Gespräch darüber mitnehmen ins ganze Land, in die Winkel unserer Gesellschaft, fernab vom Selbstgespräch der Hauptstadt, das doch viele gar nicht erreicht. Ich will Orte besuchen, an denen Menschen Verluste erleben – und, ja: Es gibt Verluste. Es gibt Orte, die sich neu erfinden müssen. Keiner dieser Orte liegt am Rand unserer Gesellschaft. Sie alle braucht es für die Zukunft. Sie alle braucht es für einen neuen Zusammenhalt. Transformation wird nur gelingen, wenn auch die Schwächeren etwas zu gewinnen haben. Jeder, den wir verlieren, fehlt der Demokratie!

Solche Gespräche brauchen vor allem eines: Zeit. Die müssen wir uns nehmen, wenn wir nicht dauerhaft aneinander vorbeireden, wenn wir uns nicht in falschen Konflikten verlieren wollen. Ich werde mir diese Zeit nehmen, und auf Zeit-Reise gehen durch unser Land.

Der Übergang meiner Amtszeit fällt auf den 18. März, den Tag der Märzrevolution und der ersten freien Wahlen in der DDR. An diesem stolzen Tag unserer Demokratiegeschichte beginne ich meine Reise, und verbringe – sehr bewusst – den ersten Tag der neuen Amtszeit in Ostdeutschland. Ich freue mich darauf.

Liebe Delegierte, liebe Landsleute, das Vertrauen, das Sie diesem Amt und das Sie mir entgegenbringen, ist ein kostbares Geschenk. Ich verspreche Ihnen: Ich werde behutsam und respektvoll damit umgehen.

Ein Bundespräsident kann alte Gewissheiten nicht zurückholen. Natürlich nicht. Aber er kann Zukunftsangst nehmen und Zuversicht geben. Er kann daran erinnern, wie viele Krisen wir in siebzig Jahren überwunden haben, wie die Ostdeutschen eine Diktatur zu Fall brachten, wie wir an einem vereinten Europa mitgebaut haben. Er kann Menschen Mut machen, Verantwortung zu übernehmen, und ihnen den Rücken stärken, wo immer sie sich engagieren und Lösungen suchen für die Probleme unserer Zeit.

Vertrauen in Demokratie ist doch am Ende nichts anderes als Vertrauen in uns selbst. In unserem Grundgesetz steht schließlich nicht: „Alles Gute kommt von oben“, sondern da steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das ist das Versprechen unserer Verfassung an uns Bürger. Aber darin liegt auch ein Versprechen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern: „Zieh Dich nicht zurück, sondern übernimm Verantwortung“. Das ist die doppelte Natur der Demokratie: Sie ist Versprechen und Erwartung zugleich. Demokratie ist eine Zumutung.

Und Mut zu machen zu dieser Zumutung – das ist meine Aufgabe.

Es gibt manche, die sagen, die liberale Demokratie sei auf dem Abstieg. Dieses Jahrhundert werde das Zeitalter der Autoritären, der harten Hand. Sie merken es: Ich halte nichts von solchen Abgesängen.

Nein, nur eines ist gewiss: Die Zukunft ist offen. Und auf diese Offenheit hat niemand, kein Autokrat und keine Ideologie, bessere Antworten als die Demokratie.

Also: Machen wir uns nicht selbst klein! Seien wir nicht ängstlich! Packen wir die Zukunft bei den Hörnern! Mögen die Autoritären doch ihre Eispaläste und Golfressorts bauen. Nichts davon ist stärker, nichts leuchtet heller als die Idee der Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen!

Jede und jeder von Ihnen, hier im Saal und im ganzen Land, jeder, der sich um mehr kümmert als sich selbst – der gewinnt ein Stück Zukunft für uns alle.

Jede und jeder, der sich engagiert – im Beruf oder im Ehrenamt, im Gemeinderat oder im Verein – der kämpft den Kampf um die Zukunft der Demokratie!

Jede und jeder, der anpackt, im Großen und im Kleinen – der bringt die Kraft der Demokratie zum Leuchten!

Gehen wir‘s gemeinsam an. Ich freue mich auf das, was vor uns liegt!

Olaf Scholz als das, wofür Steinmeier vor mehr als einem Jahrzehnt kandidiert hatte, als Bundeskanzler, setzt an diesem Tag seinen ersten Tweet mit diesem Glückwunsch an seinen vormaligen "Genossen" ab und schreibt:

P.S.

Aus diesem besonderen Anlass und an diesem ganz besonderen Ort - dem Paul-Löbe-Haus - seien hier nochmals jene Beiträgen aufgerufen, in denen auf Paul Löbe Bezug genommen wird, nachdem das in den beiden hier zitierten Reden nicht geschah:
> vom 7. Nov. 2018 „1914/1918 - Not Then, Not Now, Not Ever“
> vom 7. Juli 2018: 70 Jahre DJV-Berlin
> vom 21. April 2018 Wege (Werte?!) im Wandel (II)
> vom 20. Juli 2004 RESPEKT

Hier das Foto von einer eigenen Begegnung des Autors mit dem Namensgeber dieses Hauses:

© Bernd Lammel

Und es sei an dieser Stelle nochmals auf die grossartige Rede des vormaligen Präsidenten des Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, vom 12. Februar 2017 verwiesen, die hier in Teilen nochmals nachgehört werden kann:


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