R [Die Endlichkeit des Lebens]

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 27. November 2021 um 18 Uhr 01 Minutenzum Post-Scriptum

 

Heute geht es mit "Disrupt" nun wahrlich zur Sache...

... im Gespräch zum Thema "Die Endlichkeit des Lebens - kleine Abschiede leben lernen" mit Prof. Dr. Annelie Keil, Gesundheitswissenschaftlerin und Autorin, und Dr. Henning Scherf, Präsident des Senats und Bürgermeister a.D. der Freien Hansestadt Bremen - beide dem Autor aus langen Jahren in Bremen persönlich gut bekannt [1] - moderiert von Katja Nellissen.

A.: Die Pandemie war / ist eine grosse Lehrerin für die Ungewissheit.
H.: Ich habe gelernt, mit Zoom zu leben und meine Kinder und Kindeskinder neu zu erleben.
A.: Nicht zu lange in der Trauer verharren und den nationalen Stolz vergessen.
H.: "Das Alter hat Zukunft": gegen die "blöden Typen", die immer nur die Olympioniken vorführen.
A.: Wissenschaftler sollten auch "vom Inneren her denken"
A.: Dieser Seniorentag sollte auf allen Bildschirmen in allen Altenheimen übertragen werden.
H.: "Es gibt ein Leben nach der Pubertät..."
H.: "Es gibt auch ein Leben nach der Trauer..."
A.: "Abschied nehmen ist wie aufräumen... und immer wieder eine wichtige Reflexion."
H.: Wir müssen Menschen ermutigen zu sagen, was ihnen wichtig ist, was sie sich erhoffen.
H.: Trotz der Demenz kann man sich nahe sein.
A.: Mehr emotionale Kontaktfähigkeiten lernen, auch zu Menschen jenseits der Familie.
A.: Lob für Andreas Kruse
H.: Wer sich traut, mitzumachen, profitiert selbst davon; es geht um "aufsuchende Sozialarbeit".
A.: Gewalt in der Familie - dieses Thema ist ein grosses Tabu.
A.: Biografien machen uns auch eng... meine eigene Generation langweilt mich damit manchmal zu Tode.
H.: Man kann die Ängste vor dem eigenen Sterben bearbeiten, da es ein Teil des Lebens ist.
H.: Das Sterben ins Leben zu integrieren, das hilft mir auch beim Umgang mit schrillen Erfahrungen.
A.: Psalm 90:12 [2]. Der Tod im TV ist eine überwältigende Gegenwart - ohne Relevanz.
A.: Es geht nicht um Mitleid, es geht ums Mitgefühl.

Dr. Henning Scherf ist Politiker, ehemaliger Bürgermeister von Bremen, Buchautor, Vortragsreisender und Optimist. Er lebt seit 30 Jahren in einer Senioren-WG. „Die Endlichkeit des Lebens – kleine Abschiede leben lernen“ ist der Titel einer Gesprächsrunde mit ihm und der Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil am 25.11.2021. Ein Gespräch vorab.

Was ist gut am Älterwerden, Herr Scherf?

Es ist eine wunderbare Phase in der Biografie. Da fällt die tägliche Arbeitslast ab. Man kann plötzlich ganz frei selber bestimmen, wie man seinen Tag organisiert, mit wem man zusammenkommt, was einem wichtig ist. Es regiert keiner von draußen rein, man wird nicht hin und her geschubst und kann sich neu entfalten, kann Phantasie entwickeln, kann viele Sachen ausprobieren, für die vorher keine Zeit da war. Bei mir ist das Musizieren, Malen und Schreiben. Ich habe das Gefühl, ich lebe in der besten Zeit meines Lebens.

Beim Deutschen Senioren Tag im November werden Sie über das Abschiednehmen sprechen. Abschiednehmen gehört zum Älterwerden – von Menschen, Gewohnheiten, Dingen. Waren Sie darauf vorbereitet?

Ich bemühe mich, mich darauf vorzubereiten. Schon mein Leben lang. Das hat angefangen im Krieg. Schon als kleines Kind habe ich Schulkameraden verloren und gelernt, wie Trauer geht, wie sterben geht und wie nahe das sein kann. Und dann kann ich mich noch gut an die letzten Worte meiner Großmutter erinnern: „Die schönste Zeit meines Lebens war mit euch.“ Da war ich 14 oder 15 und sie ist in meinem Arm gestorben. Ich hab gemerkt, dass das ein wunderbarer Tod war, dass sie sich das gewünscht hat, so zu sterben in der Mitte ihrer Enkelkinder, für die sie wirklich ihr letztes Hemd rausgerückt hat, um sie durchzubringen. Mit jedem Abschied lerne ich vertraut zu werden mit dem Sterben. Und, dass ich mit dem Stück Leben, das ich noch vor mir habe, umsichtig umgehe. Dass ich es nicht vertrödeln darf. Dass ich es nicht durch quälende Gedanken oder Sorgen kaputt mache, sondern es als ein Geschenk nehme. Durch das Vertrautwerden mit dem Sterben, kann man die Kostbarkeit des Lebens erfahren.

Ist der Kontakt zwischen jungen und alten Menschen entscheidend, um das Abschiednehmen oder das Loslassen lernen zu können?

Ja, wo das möglich ist, ist es ein großes Geschenk für die Alten wie für die Jungen. Ich habe eine Untersuchung aus den USA gelesen. Sie zeigt, dass Kinder, die ihre Großeltern begleiten bis zum Tod, besser mit ihrem Leben klarkommen als die, die diese Erfahrung nicht machen. Das ist ja nicht mehr selbstverständlich. Früher lebte man in Großfamilien und da war immer irgendjemand Altes dabei. Heute ist das eher die Ausnahme. Ich bin gerade dabei, ein Buch zu konzipieren mit einer meiner tollen Enkeltöchter, die Psychologie studiert. Wir beide wollen ein Buch darüber schreiben, was wir voneinander lernen. Ich bin so begeistert von dem, was sie beobachtet und wie sie an uns teilnimmt. Und wie sie sich das auch als Vorbild nimmt. Oder als Beispiel für ihr eigenes Leben. Da spüre ich richtig: Das ist ein Schatz, wenn es gelingt, Generationen zusammenzubringen.

Sie klingen so positiv und so begeistert vom Alter. Wie haben Sie das hingekriegt?

Sie kennen das ja: Das Glas ist halb voll oder halb leer. Bei mir war es immer halb voll. Ich habe mich darauf konzentriert, was noch möglich ist, statt zu darüber zu jammern, was nicht mehr geht. Ich war Marathonläufer – das geht schon lange nicht mehr. Mit dem Kanu bin ich durch Nordsee, Weser und Elbe kutschiert – geht nicht mehr. Ich bin Rennrad gefahren – geht nicht mehr. Also ich hab mich von vielen Sachen verabschiedet und das, was geblieben ist, ist kostbar. Das Laufen zum Beispiel. Ich gehe jetzt jeden Tag mit zwei Stöcken durch unseren Bürgerpark. Das ist so schön, wenn ich mich da selber grade machen kann und mich über das Grün freue, über die vielen schönen Blumen und Vögel und über die Gespräche mit anderen Menschen im Park. Trotz der verlorenen Kompetenzen ist noch so viel da, noch so viel Schätzenswertes und Reizvolles, was den Tag lebendig macht – da hab ich keinen Grund zu jammern.

Sie wohnen seit vielen Jahren in einer Alten-WG – was beschäftigt sie in der Hausgemeinschaft gerade?

Unsere Kinder und Enkelkinder. Die kommen jetzt wieder zu uns. In den letzten Monaten haben wir wegen der Corona-Maßnahmen nur telefoniert oder uns über Zoom verbunden – ich bin da mittlerweile richtig vertraut mit dieser Technik. Und jetzt haben wir die Chance, wieder was zusammen zu machen und schmieden dafür Pläne. Es war und ist eine sehr gute Erfahrung, dass wir hier in der Hausgemeinschaft die Pandemie nicht als große Verlusterfahrung erlebt haben, sondern als eine Erfahrung, in der das Zusammenleben, das Aufeinanderachten viel intensiver war als vorher. Gerade bei mir. Ich war vor Corona ja ständig unterwegs bei Vorträgen und habe immer mehr darüber geredet als dass ich es selbst gelebt habe. Jetzt, in der Pandemie, habe ich das schön nachholen können. Jetzt koche ich gerne und lese wie ein Weltmeister, mache Musik und kommuniziere mit den anderen viel intensiver.

Das klingt, als würde Ihnen das gut gefallen.

Ja, natürlich. Das ist ein Geschenk. Ich nenne das immer den längsten Urlaub meines Lebens. Meine Frau und ich sind jetzt 61 Jahre lang verheiratet. Als Schüler sind wir schon zusammen gewesen. Wir haben nie so viel Zeit zusammen verbracht wie in diesen Pandemie-Monaten. Eine riesige Chance war das. Aber wenn ich darüber zu laut rede, dann verletze ich vielleicht die, die diese Zeit anders erlebt haben. Als Einsamkeit oder Kontaktarmut.

Was nehmen Sie aus der Pandemie-Erfahrung mit für die künftige Lebensgestaltung?

Es wird in jedem Fall anders werden. Ich bin neugierig, wie anders. Wer mich einlädt, wer sich für mich interessiert, wie das Buchprojekt mit der Enkeltochter gelingt. Natürlich bin ich auch neugierig auf die Konzerte, Theaterstücke und das öffentliche Leben in Bremen. Dass unsere Altersrolle so öffentlich ist, das bedrängt mich nicht, das finde ich eher schön. Und ich wünsche mir, dass ich das noch ein paar Jahre machen kann. Das Alter teilt sich für mich in eine Phase, die ich jetzt weitgehend hinter mir habe, wo ich noch leistungsfähig, belastbar und initiativ war, obwohl ich nicht mehr im Beruf war. Und jetzt wackle ich in die Phase rein, wo ich nicht mehr so belastbar bin. Wo ich also langsam schrittweise zu den Hochaltrigen gehöre. Aber das finde ich spannend. Das finde ich aufregend. Da will ich wissen, was ich noch kann und was mir wichtig ist und ob dann andere noch was mit mir anfangen können.

Wir. Alle. Zusammen. – so heißt das Motto des Deutschen Seniorentags. Was bedeutet das für Sie?

Ich finde dieses Motto schön. Es ist genau die richtige Botschaft für unsere altersveränderte Gesellschaft. Sie öffnet die Augen für die Möglichkeiten, die man im Alter erreichen kann. Und natürlich wollen wir das mit denen, die nachwachsen, zusammen machen. Wir können über Solidarität sprechen, über Erfahrungen und uns gegenseitig Mut machen.

Interview: Valeska Zepp