Berlinale Review: "Zurück in die Zukunft"

VON Gabriele LeidloffZUM Montag Letzte Bearbeitung: 9. April 2021 um 14 Uhr 26 Minuten

 

Die Berlinale 2020 aus der Sicht von Gabriele Leidloff und Max-Peter Heyne, zitiert nach der Ausgabe des filmpolitischen Informationsdienstes black box, April/Mai 2020.

 


Zurück in die Zukunft
 

Die Berlinale feierte den Autorenfilm, der sich nun in Quarantäne befindet. Waren die Inter- und nationalen Berliner Filmfestspiele eventuell für längere Zeit das letzte A-Festival angesichts der Coronakrise, in deren Dynamik alle anderen Filmfestivals und Branchentreffen wie Dominosteine umfallen bzw. abgesagt werden mussten? Optimisten verschieben ihre Kinostarts und Events auf den Spätsommer und Herbst, während die Virologen mit weiteren Einschränkungen im öffentlichen Leben rechnen. In einer Zeit, in der die Menschen dieser Welt zur Entschleunigung aufgerufen sind, ist die Zukunft sehr spannend. Mit Karacho werden neue Weichen gestellt, bürokratische Hindernisse beseitigt und durch den Schock keine trägen Umwege mehr gewählt. Diese Erfahrung teilen branchenübergreifend alle Beteiligten. Es gibt kein Zurück! Nach der Besinnung auf die Dynamik der Umstrukturierung entpuppt sich reflektierend im besten Falle ein Fokus im Spiegel der Werte. Der Aktionismus, in dem sich jeder zu verlieren droht, verlagert sich hoffentlich nicht auf andere Plattformen bzw. in die Zukunft. Der Trend zu diesem Verhalten hat sich aufgestaut und ist dementsprechend kollabiert. Wie könnte eine Korrektur nachhaltig Wirkung zeigen?

„Die Orte“, an denen wir uns mittels Filme „zur Welt verhalten, kamen uns vorübergehend abhanden“, hieß es in einer Mitteilung der Leiterinnen des Arsenal-Kinos in Berlin. Sie teilten mit, dass „die Filmemacher*innen und Künstler*innen, deren Filme das Kino im Verleih hat“, nach einem Aufruf „ohne zu zögern sofort so viele Filme für die Onlinepräsentation zur Verfügung gestellt haben, dass wir damit wochenlang Programme gestalten könnten“. Kurzum: Auch der Kinofilm muss zu Hause bleiben. Wo aber die kulturellen Spielstätten, deren zwar nicht lebens-, aber doch branchenentscheidenden Erlöse und der Filmnachschub bis auf weiteres ausfallen, ist Umdenken und Bewegung unverzichtbar.

Das Kino als Erlebnisort könnte nach der Überwindung der Krise neu entdeckt werden. Denkbar ist aber auch, dass die Arthaus- und Kiezkinos eine entsprechend längere und härtere Durststrecke vor sich haben, der viele Häuser zum Opfer fallen. Zwar werden nach Wiederaufnahme des Betriebs zunächst vor allem europäische Arthaus-Produktionen durch den virusbedingten Flaschenhals drängen, weil die Blockbuster längere Produktionszeiten haben. Aber damit werden sich die auf mehrere zehntausend Euro belaufenden jährlichen Investitionsvolumen für technisches Up to date nicht einspielen lassen. Viele Häuser werden wahrscheinlich unabsehbare Zeit am Tropf staatlicher Hilfen hängen. Zudem könnten die gut gemeinten, kostenlosen kulturellen Angebote, die derzeit massenhaft ins Netz wandern, den ohnehin bestehenden Online-Trend bei jüngeren Zielgruppen zusätzlich befeuern.

Hierzulande ist eine beeindruckende Welle der Solidarität ausgebrochen. Der kleine Nürnberger Grandfilm-Verleih bietet seine Filme über Vimeo als Stream an und hat angekündigt, die Ein nahmen fifty-fifty mit den Kinos zu teilen. Aber die Haltung der Streaming-Riesen wie Amazon und Netflix gegenüber der bisherigen Praxis des ‚Cinema first‘ wirkt zunehmend fragil, je länger die für sie paradiesischen Zustände weiter anhalten. Schon haben einige der größten Verleiher wie Paramount und Disney angekündigt, in einigen Fällen auf eine Kinoauswertung zu verzichten und ihre Filme früher als geplant ins Netz zu stellen.

Auch bei den Diskussionen um die Novellierung des Filmförderungsgesetzes (FFG) und der Verteilung der Erlöse gibt es eine Chance, die bisherigen Strukturen und Gewohnheiten neu zu überdenken – zumal sich die Branche ohnehin mitten in einem Abstimmungs- und Transformationsprozess befindet, der durch die erzwungene Lücke und den kulturellen Lückenschluss im Internet noch einmal einen kräftigen, unverhofften Schub erhalten wird. Umso größer wird der Druck, den Überschuss an deutschen Produktionen zu überdenken. Deren Vermehrung, die sich aus dem Förder-Föderalismus speist, sehen viele Kinobetreiber ohnehin eher als Belastung.

Der Vorstandsvorsitzende der AG Kino, Christian Bräuer, empfindet die bisherigen Gespräche über das FFG „bislang als riesige Enttäuschung“, denn man rede „bei den wahren Problemen vorbei“, statt zu überlegen, „welche Mittel geeignet sind, wieder mehr zuschauerstarke Filme aus Deutsch- land in die Kinos zu bringen.“ Die Debatte sei „nach wie vor produktionszentriert“ und kreise darum, „wie die Verhältnisse für die Produzenten verbessert werden können“. „Aber wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, dass dies allein nicht zu besseren Filmen führt. Wenn sich eines geändert hat im Zeitalter der audiovisuellen Content-Flut und des Streamens“, so Bräuer, „dann, dass man sich im Kino nicht mehr mit Mittelware durchwursteln kann. Wir Kinos wissen es und beobachten es tagtäglich an der Kasse, aber in der Novellierungsdebatte wird dies munter von allen Seiten ignoriert. Wir müssen jedes Produkt hochqualitativ planen und den Markt ernst nehmen.“

Dass die Kinobetreiber, bei denen „sofort der Markt greift“, d.h. bei leerem Saal die Fixkosten weiterlaufen, während „Produzenten hauptsächlich von Produktionsgeldern und Verleiher von Verleihgeldern leben“, für mehr Markt im Fördersystem plädieren, leuchtet ein. Doch mit Sebastian Andrae, dem geschäftsführenden Vorstand des Verbandes deutscher Drehbuchautoren, unterstützt auch ein Vertreter der Kreativen mehr Zuschauerorientierung: „Wir als Inhaltsanbieter müssen uns klar darüber sein, dass wir in einer viel härteren Konkurrenz stehen. Wir müssen uns viel stärker schon bei der Stoffentwicklung selbst befragen, für wen man Filme schreibt. Bei ‚ziellosem Filme- machen‘ wundert man sich natürlich, dass gar keine Zielgruppe auf den Film wartet“, so Andrae. „Was in keinem Papier bisher angeregt wurde: Ob es nicht sinnvoll ist, Referenzgelder an erfolgreiche Kreative und Talente für deren nächstes Projekt auszuschütten. Schon, damit diese Talente nicht an die Konkurrenz bei dem TV-Sendern oder Streamingdiensten verloren gehen, die ja immense Mittel zur Verfügung haben.“

Würde Amazon seine zusätzlichen Milliardengewinne dazu benutzen, um Kinos aufzukaufen, bräche das bisherige Distributionsnetz schon mittelfristig zusammen – mit Folgen auch für die Produktionsseite, die derzeit noch immer aufs Schmiermittel Fördergeld fixiert ist. Die Arthaus- sparte würde zerbröseln. Deswegen wundert sich Christian Bräuer, „dass man die Kinos in ihrer Funktion für den deutschen und unabhängigen Film nicht hinreichend ernst nimmt - gesellschaftlich wie wirtschaftlich. Jede Kinovorstellung ist ein Slot und die Frage ist, welchen Anteil daran künftig der deutsche Film hält. Wenn man also an einen Erlöskorridor denken will, dann brauche ich auch Abspielstätten, um die Erlöse zu erzielen“, mahnt er, und hält es für „naiv, zu glauben, dass wir nach zwei Jahren Durststrecke plötzlich größere Früchte ernten werden. Der deutsche Film wirkt wie ein ausrollender Schneeball, bei dem jedes Jahr weniger im System hängen bleibt. Diese Logik müssen wir umdrehen, nachhaltig auf Qualität und Erfolg setzen, einen neuen Schneemann bauen. Doch darauf ist das System bislang nicht ausgelegt.“

Gibt es in Zukunft neue Förderungs- und Veranstaltungsszenarios, in denen die Kinos ersetzt werden könnten? Wer auf kreativer Seite voller Vorfreude darauf wartet, dass mit dem erzwungenen Stillstand bisherige Machtstrukturen und Abhängigkeiten bei der Film- und Verleihförderung mehr denn je in Frage stehen, die seit Jahrzehnten ein inzestuöses System mit den ewig gleichen Für- und Widersprechen hervorgebracht haben, muss mit vielen Unbekannten rechnen, solange z. B. Streaming-Dienste oder auch nationale Webportale nicht automatisch in die Fördertöpfe einzahlen. Wenn die Arthausschiene schrumpft, bleiben im Distributionswandel nur noch digitale Portale, einzelne Fernsehsender und Festivals.

Prophetisch oder paradox? Die Berlinale unter dem neuen Duo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian als künstlerischem Leiter fuhr geradezu hemmungslos zurück in die Zukunft. Manche der Wettbewerbsbeiträge wirkten mit ihrer Ablehnung dramaturgischer Konventionen wie in einer Zeitmaschine aus den 1970er Jahren ins Heute katapultiert. Gerade im Wettbewerb wimmelte es von jenen sperrigen, mittelprächtigen, am eigenen Originalitätsanspruch gescheiterten Filmen, die AG Kino-Verbandschef Christian Bräuer als untauglich für Arthausspielstätten gemeint haben könnte. Sogar jene, die sich trotz des Trends zur Geschlechtergleichheit ein Faible für die ranzige, selbstverliebte Attitüde des chauvinistischen Männerkinos von früher bewahrt haben, kamen mit Filmen wie Le Sel des Armes und Siberia auf ihre Kosten. Für Zuschauer, die sich im Kino gerne von klassisch erzählten Geschichten mit handlungstreibender Dramaturgie, kraftvollen Charakteren und vielleicht sogar Ironie oder Humor inspirieren oder verzaubern lassen, bot das Hauptprogramm hingegen wenig. Und wenn, wie z. B. die Persischstunden (beileibe keine leichte Unterhaltung), mit denen Carlo Chatrian vor allem in Richtung Hollywood hätte glänzen können, so wurden sie zu „Berlinale Specials“ oder „Galas“ degradiert.

So vermissten selbst die dem Autorenkino sehr Zugewandten im Wettbewerb das ausgewogene Verhältnis zwischen breitenwirksamem Kino und künstlerischer Attitüde. Ein Filmfestival muss die oft zum Mainstream tendierenden Interessen und Sehgewohnheiten eines jüngeren Publikums nicht zwanghaft bedienen, darf und soll auch sperrig inszenierte Filme mit randständigen Themen präsentieren. Doch erstens hat die Berlinale abseits des Wettbewerbs dafür bereits eigene Reihen etabliert, und zweitens müssen die ausgewählten Filme dann auch innovatives Potential entfalten. Zumindest in Berlin, einer Stadt mit sozialen Brennpunkten wirkt der naturalistische, dramaturgisch unterzuckerte Autorenfilm als Schwerpunkt zu einseitig. In der glatt gepusteten Schweiz mag die Inspirationskraft solcher im Englischen „Kitchen Sink“-Filme genannten Werke prägnanter empfun- den werden. Vor allem aber wurden die bisherigen strukturellen Probleme der Berlinale auch mit den Änderungen, die das neue Führungsteam durchsetzte, nicht gelöst: Die Profile der diversen Reihen konnten nicht geschärft werden. Viele Wettbewerbsfilme waren dem Inszenierungsstil nach eigentlich Forumsbeiträge bzw. vertrugen die riesige Leinwand nicht. Die neue Reihe „Encounters“ machte sowohl dem Forum, dem Panorama als auch dem Wettbewerb Konkurrenz. Der sektions- übergreifende Mangel an sehenswerten Dokumentarfilmen war dramatisch. Zu Samuel Finzis Auftritt passt das Bonmot, dass Conférencier oder Moderator nicht umsonst einen eigenen Beruf bezeichnet.

Im 70. Jahr wandte sich die Berlinale also verstärkt an Kritiker, vor allem die mehrheitlich über 50-Jährigen und jene, die mit einer Berlinale als Arbeitsfestival nicht fremdeln. Ein Zeichen der Zeit insofern, da jüngere Kritiker*innen schon deshalb immer weniger werden, weil sie im Printbereich nicht mehr gebraucht und von Online-Tätigkeiten nicht leben können. Die parallel zum Festival stattfindende „Woche der Kritik“ hat im neuen künstlerischen Leiter der Berlinale, Carlo Chatrian, keinen Antagonisten mehr, an dem sie sich abarbeiten kann. Die Ehrungen für Helen Mirren und Ulrike Ottinger waren gute Entscheidungen und der Wettbewerbsbeitrag Es gibt kein Böses vom iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof ein verdienter Goldener Bär – was der exzellent zusammengestellten internationalen Jury zu verdanken ist.

Wer hätte gedacht, dass die Schließung der meisten Läden und Lokale am Potsdamer Platz wegen einer Umstrukturierung der Passage sich unmittelbar nach dem Festival auf die gesamte Stadt und den Erdball ausdehnen würde?


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