"Demokratie und digitale Öffentlichkeit [...]“

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 1. April 2021 um 14 Uhr 58 Minutenzum Post-Scriptum

 

Die Anfrage

Einladung und Akkreditierungsgesuch

Die Anhörung

Dass diesem hier als Zitat eingestellten Anschreiben Rechnung getragen wurde: War das nun ein Privileg oder haben es die meisten KollegInnen einfach vorgezogen, sich auch diese Veranstaltung am eigenen Rechner anzuschauen und anzuhören, ohne dafür aus dem Haus gehen zu müssen?

Dem Berichterstatter ging es auf jeden Fall so wie Margrethe Vestager, die gleich zu Beginn ganz ohne jegliche diplomatische Maske zu erkennen gab, dass sie jede sich nur bietenden Gelegenheit liebend gerne annehme, um wieder vor Ort und unter Menschen sein zu können [1]

Und, was hinzu kommt: bei der Verhandlung eines so eminent wichtigen Themas persönlich dabei sein zu können. Ja, es sei hier unumwunden zugegeben, dass am Ende der Veranstaltung der Berichterstatter etwas tat, was normalerweise auf der Aufforderung zur journalistischen Distanz eher abgelehnt wird, er hat applaudiert; es war dringend notwendig, dass dieses Spitzenthema auch an der Spitze der Politik angekommen ist: in Deutschland, in Europa und in den USA.

Die Inszenierung

Auch wenn das abgespulte Ritual nach mehrfachem Erleben bekannt sein sollte, ist es doch immer wieder erstaunlich dieses zu sehen und miterleben zu können, nach welchen Regeln, in welcher Choreographie sich das Ganze abspielt: Einlass und Platzierung der Journalisten. Und dann des hauseigenen Personals. Einlass und Platzierung der Gesprächsteilnehmer und sodann des Hausherren. Er hält seine Rede, tritt wieder ab, verlässt den Raum. Das Pult wird durch einen Stuhl ersetzt. Alles geprüft. Der erneute Auftritt des Hausherren. Und dann kommt es einmal mehr zu einer nun schon mehrfach beobachteten klug ausgezirkelten Moderation, in der alle drei GesprächsteilnehmerInnen mit klugen und zum Teil aufeinander aufbauenden Fragen bedacht werden. Als die Zeit abgelaufen ist, wird der vorangegangene letzte Beitrag elegant zum Schluss-Statement erklärt, alles nochmals zusammengefasst und erneut das virtuelle Publikum einbezogen. Und dann ist Schluss. Applaus (Solo, siehe oben ;-) und Margrethe Vestager dankt noch einmal ausdrücklich für die vorzügliche Übersetzung.

The Englisch Version

In der Splitbox wurden in der Tat zwei Kanäle angeboten, der mit dem O-Ton und der mit der Übersetzung ins Deutsche. Da aber keine zwei Aufzeichnungsgeräte mitgebracht wurden, die Bitte an der Veranstalter, nochmals beide Tonspuren zuzusenden, so dass der ganze Ablauf der Veranstaltung auch von jenen Personen jenseits des Atlantiks verstanden werden kann, die des Deutschen nicht mächtig sind. Sollte ein solcher File nicht auf der englischsprachigen Seite des Bundespräsidenten bereitgestellt werden, wird diese Aufgabe gerne an dieser Stelle übernommen. Denn, das hier und heute Vorgetragene ist es wahrlich wert, auch über die Grenzen dieses Landes hinaus weitergetragen zu werden [2].

Die Quellen

Noch am gleichen Tag wird das Thema: 11. Forum Bellevue: "Demokratie und digitale Öffentlichkeit – Eine transatlantische Herausforderung?" auf der Webseite des Bundespräsidenten mit zwei Fotos dokumentiert [3], sowie die Rede des Präsidenten auf deutsch [4] und auf englisch:

“Democracy and the digital public sphere – A transatlantic challenge”

Ausserdem wird ein Bericht zum Termin bereitgestellt [5].

Sobald der Mitschnitt der Veranstaltung bereitgestellt wird, wird es auch mit dieser Berichterstattung weitergehen.

Der Mitschnitt

Auf der Seite des Bundespräsidenten findet sich am Abend dieser YouTube-embedded Link, der gegen 23 Uhr 110 Aufrufe verzeichnet, sowie "0" Daumen rauf und "0" Daumen runter:

Auf YouTube findet sich, den Empfehlungsalgorithmen folgend, dieser Link auf den Kanal der Bertelsmann Stiftung 11th Forum Bellevue. Democracy and the Digital Public Sphere – A Transatlantic Challenge [6]: der weist am Abend gegen 23 Uhr 225 Aufrufe auf, "8" Daumen rauf und "1" Daumen runter:

Also doch: Es gibt eine englische Version [7], und die Annahme hat sich bestätigt, dass gerade die englischsprachige bzw. ins Englische übersetzte Version ein ganz besonderes Interesse finden wird. Auch dann, wenn die voice-over- Passagen von einer eher ’suboptimalen’ Mischungsqualität sind.

Was bedeutet, dass das Interesse an dem nicht eingemischten Ton der beiden Übersetzerinnen nach wie vor erhalten bleibt.

Der Abschied

Ja, wie gut wäre es jetzt gewesen, mit den hier aufgetretenen Protagonisten das Gespräch vertiefen und/oder in einem Interview konkretisieren zu können. Stattdessen bleibt es bei diesem stummen Abschiedsgruss:

P.S.

Nach der von ihm erneut angesprochenen Reise des Bundespräsidenten in die USA, bzw. nach Kalifornien: Steinmeier im Silicon Valley: deutsch-amerikanische Digitalisierungskultur ...

... und seiner Intervention zum Thema "Digitale Ethik" aus Anlass der Auftaktkonferenz des internationalen Forschungsprojekts „Ethik der Digitalisierung“ - siehe z. Bsp. die FAZ vom 17. August 2020: Zukunft der Digitalisierung : Steinmeier warnt vor zerfallendem Internet - wird das aktuelle Engagement wie folgt in der Presse reflektiert:

> im dpa-Bericht - dpa-infocom, dpa:210301-99-643588/3 - so wie hier von der Leonberger Kreiszeitung übernommen.

> im Bericht von Simon Groß für die Süddeutsche Zeitung: Steinmeier fordert, soziale Medien stärker zu regulieren.

Und hier ist der Link zu dem an diesem Tag erwähnten Gastbeitrag von Ben Scott in der FAZ vom 27. Februar 2021: Grenzen für die Tech-Giganten : Deutschland muss Amerika heilen helfen

Anmerkungen

[1Dito. WS.

[2Auch wenn wir auf unsere An-/Nachfrage keine Antwort erhalten haben, hier die inzwischen Online bereitgestellten ’Fundsachen’:
 der auf der englischsprachigen Webseite des Bundespräsidenten freigeschaltete Link Forum Bellevue: Democracy and the digital public sphere
 das von der Bertelsmann Stiftung eingestellte YouTube-Video:

[3für die an dieser Stellen zwei Aufnahmen aus eigener Hand eingestellt werden:

[4

Im November nahm ein Superspreader-Event seinen Lauf, über das seitdem alle Welt redet. Binnen kürzester Zeit wurden Hunderttausende angesteckt. Aber nicht mit einem gefährlichen Virus, sondern mit einem Verschwörungsmythos.

Es war die böswillige Mär von der gestohlenen Wahl, die sich in Windeseile über die sozialen Medien verbreitete. Diese Lüge hat den Angriff eines bewaffneten Mobs auf das amerikanische Kapitol entfesselt, auf eines der ältesten und ehrwürdigsten Parlamente der Welt.

Ich begrüße Sie zu diesem Forum Bellevue, aus bekannten Gründen fast ganz digital, an den Bildschirmen in Europa und den USA. Nicht über die Pandemie, sondern über die Demokratie wollen wir heute sprechen, über die Demokratie und ihre öffentlichen Räume im digitalen Zeitalter. Anlass gibt es wahrlich genug.

Die digital befeuerten Angriffe gegen die Demokratie rund um die US-Wahlen sind das eine, die digital vernetzten Demonstrationen für die Demokratie in Russland und Belarus das andere. Und mittendrin, hier in Deutschland, stehen uns dieses Jahr in Bund und Ländern sieben Parlamentswahlen ins Haus, die ersten zwei bereits in zwei Wochen. Schon seit Jahren spüren wir es, auf der ganzen Welt: Wenn es um die Sache der Demokratie geht, ist die digitale Revolution beides – Fluch und Segen, Chance und Gefahr.

Digitale, allen zugängliche Medien erscheinen zunächst wie eine urdemokratische Verheißung, ein öffentlicher Raum ohne Grenzen und Barrieren, in dem jeder von allen empfangen und an alle senden kann. Doch spätestens jetzt, nach den Fernsehbildern aus Washington, sollte jede Illusion verflogen sein. Die nüchterne Wahrheit ist: Neue Freiheit braucht neue Verantwortung, damit der digitale öffentliche Raum nicht in Chaos und Selbstzerstörung endet.

Die Demokratien der Welt müssen ihre Verfasstheit auch im Digitalen sichern, gegen Feinde von innen wie außen. Besonders die Plattformen der sozialen Medien treiben uns um. Soziale Medien verstärken das Beste und das Schlimmste in unseren Gesellschaften. Für die Demokratie sind sie deshalb weder Allheilsbringer noch Abrissbirne. Aber die digitalen Plattformen sind inzwischen fester Bestandteil, ja mehr noch: Mitarchitekten und Taktgeber unseres demokratischen öffentlichen Raums – und deshalb ist es höchste Zeit, dass wir uns intensiver um sie und ihre gesellschaftlichen Folgen kümmern.

Seit dem Amtswechsel in den Vereinigten Staaten ist das Problem auf beiden Seiten des Atlantiks hoch auf der Agenda. Die Europäische Union, liebe Frau Vestager, arbeitet an einer breit angelegten Regulierung des digitalen öffentlichen Raums, einem Common Rule Book für die Digitalwirtschaft, und hat den USA erst kürzlich ein gemeinsames Vorgehen angeboten. Präsident Biden plant einen Gipfel für die Demokratie und hat in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Zukunft der Demokratie in den Mittelpunkt seiner Botschaft gestellt: ""America is back.""

Die liberale Demokratie ist das, was uns über den Atlantik stärker verbindet als alles andere. Viel spricht deshalb dafür, dass die Fragen, über die wir heute das Gespräch suchen, ein wesentliches, vielleicht sogar das zentrale Element einer neuen transatlantischen Agenda werden.

Der öffentliche Raum einer Demokratie soll vieles leisten: die Pluralität der Gesellschaft abbilden und allen zugänglich sein, vernünftige Debatten fördern und Räume für neue Ideen und politische Ziele öffnen, verlässliche Informationen bereitstellen und die demokratische Mündigkeit aller bestärken. Diese Ideale weisen uns seit der Aufklärung den Weg. Jeder Schritt weg von ihnen, jede Beschädigung unserer öffentlichen Räume bleibt nicht folgenlos für die Demokratie.

Das rechtfertigt nicht die inflationär zunehmenden Abgesänge auf die Demokratie. Aber schon 2009 warnte der ehemalige Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, dass die Verteilung von Aufmerksamkeit im digitalen öffentlichen Raum die entscheidende Machtfrage ist. Wer direkten Zugang zu den Smartphones und Laptops der Menschen hat, wer über den nächsten Inhalt entscheidet, übt Macht aus.

Den direktesten Zugang zu den Menschen haben heute die sozialen Medien – und ihr werbefinanziertes Geschäftsmodell verlangt Aufmerksamkeit um fast jeden Preis. Die Algorithmen von Facebook und YouTube, Twitter und TikTok lenken unsere Aufmerksamkeit mit eiskalter Präzision, auf Grundlage unserer eigenen Datenmuster, nach genau zwei Kriterien: Welche Inhalte binden mich längstmöglich an den Bildschirm? Und wie kann während dieser Zeit möglichst viel Umsatz mit maßgeschneiderter Werbung erzeugt werden?

Nichts bindet Menschen offenbar so sehr an ihre Geräte wie Erregung und Empörung, Angst und Wut. Die Algorithmen lernen, die individuellen Newsfeeds und Autoplay-Videofolgen immer aufregender und spektakulärer zu gestalten – auch dann, wenn es um Politik und das öffentliche Wohl geht. Wenig gelten dabei die Werte, auf denen unsere Demokratien gebaut sind: Respekt, Wahrheit und Zivilität, Vernunft, Fakten und Verantwortungsgefühl. Anders als selbst bei einer Boulevardzeitung gibt es keine Redaktion, keinen Presserat und keine Konkurrenz, die mäßigend und kontrollierend einschreiten. Im Gegenteil, Ausgleich und Mäßigung stören das Geschäft. Einen rein gewinnmaximierenden Algorithmus schert weder, was wahr oder falsch ist noch mit welchem Ziel ein bestimmter Inhalt erstellt wurde. Aber er kann ziemlich gut vorhersagen, was jeden individuell an den Bildschirm fesselt.

So werden Geschwindigkeit und Zuspitzung belohnt, bleiben Einseitigkeit und Unwahrheit unwidersprochen, Demagogie und Propaganda zu oft ungerügt. Die sozialen Medien prämieren viel zu oft die schnelle Lüge – auf Kosten von Vernunft und Wahrheit. Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit wird zur Gefahr für die Demokratie.

Und die Feinde der Demokratie nutzen diese Schwachstellen leider am besten. Mit Lug und Trug befeuern sie die Aufmerksamkeitsmaschinen der sozialen Medien gekonnt zum eigenen Vorteil. Und am Ende besetzen Aufständische das Kapitol.

Die Folgekosten dieses großen Strukturwandels unserer öffentlichen Räume entstehen nicht unmittelbar durch die Digitalisierung unserer Kommunikation an sich. Im Gegenteil, kaum eine Technologie birgt zunächst einmal mehr Chancen, pluralistische öffentliche Räume zu schaffen, allen frei zugänglich, grenz-, milieu- und größtenteils generationenüberschreitend.

Nein, die Kosten des Strukturwandels der Öffentlichkeit entstehen durch konkrete demokratiepolitische Versäumnisse der den Markt beherrschenden Plattformen. Diese Konstruktionsfehler schaden dem öffentlichen Raum – und die Demokratie wird zum Kollateralschaden des Geschäftsmodells.

Es geht dabei ums Grundsätzliche. Wenn aus jeder Lüge ein Dogma werden kann, jede Debatte zum Schreikrampf verkommt, alle nur noch in ihren Echokammern hocken, jede Meinungsverschiedenheit gleich droht, den demokratischen Gesellschaftsvertrag aufzukündigen, und am Ende niemand dafür verantwortlich sein will, dann sind Politik und Rechtsstaat gefordert. Nicht nur, um Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Sondern um die Existenz der Demokratie zu sichern.

Die absichtsvolle Manipulation unserer Aufmerksamkeit bedient gut bekannte psychologische Schwachstellen des Menschen. Hier versagt ein Markt, der von wenigen Anbietern dominiert wird. Er schafft ein gesellschaftliches Übel, indem er unsere schlechtesten Instinkte bedient. Und wir kennen die aufgeklärte Antwort auf solche Übel – nämlich Rechtsstaat, Regeln und Institutionen.

Die großen Plattformbetreiber haben sich lange gewehrt gegen Kontrolle und gegen ihre eigene Verantwortung für den öffentlichen Raum, den sie mit ihrer Infrastruktur geschaffen haben. Probleme hat man relativiert oder kleingeredet, keinerlei Haftung für Inhalte übernommen, die eigenen Angebote lieber zum privaten Zimmer für Familienklön und Urlaubsfotos erklärt – und dennoch Milliarden verdient mit politischem Content und der journalistischen Arbeit anderer. Regulierung wurde lange zum Feind der Freiheit erklärt.

Das Gegenteil ist der Fall: Damit Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben, braucht es Regeln. Umso bemerkenswerter ist es, wenn nicht mehr nur Player wie Apple und Microsoft, die ein anderes Geschäftsmodell verfolgen, nach Regulierung der werbefinanzierten Konkurrenz rufen, sondern wenn selbst ein Mark Zuckerberg sagt: ""Big Tech needs more regulation.""

Stimmt. Solange die Unternehmen den Kurs nicht ändern, mag so ein Ruf nach Regeln zynisch klingen. Aber die Zeichen mehren sich, dass Facebook und Co. die Geister nicht mehr loswerden, die sie riefen – und ihnen die scharfe Kritik, die da auf sie einstürzt, zunehmend zusetzt. Wir sollten den Ruf nach Regeln jedenfalls beim Wort nehmen.

Und zum Glück haben wir nach wie vor funktionierende öffentliche Räume, zum Glück gibt es eine breite Debatte über die Zukunft der digitalen Öffentlichkeit. Gegen Desinformation und Hass engagiert sich ein immer breiteres zivilgesellschaftliches Bündnis – und fordert zugleich bessere Regeln. Und der Erfolg von Dokumentationen wie ""The Social Dilemma"" zeigt, dass weltweit inzwischen ein Millionenpublikum das Problem verstehen kann und verstehen will.

Seit Jahren wird über passende Regulierungen nachgedacht – und gestritten, nicht nur in Washington und Brüssel, auch hier in Berlin, etwa beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Die angemessene Vergütung journalistischer Inhalte, um die gerade in Australien gerungen wurde, ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte. Fast noch wichtiger ist der Graubereich aus zwar legalem, in millionenfacher Wiederholung aber demokratieschädlichem ""harmful content"", wie die systematische Lüge von der gestohlenen Wahl.

All diese Debatten sind gute Nachrichten. Denn es geht in all diesen Debatten, so kleinteilig und technisch sie manchmal wirken, um nicht weniger als die Demokratisierung des Digitalen. Die Demokratie ist nicht irgendein Geschäftsmodell, kein analoges Relikt, reif für digitale Disruption. Im Gegenteil: Demokratie und Rechtsstaat sind die Grundlagen unseres Zusammenlebens als freie und mündige Bürger. Die Demokratie hat die Entwicklung eines freiheitlichen Internet, vielleicht sogar die digitale Revolution an sich überhaupt erst möglich gemacht. Das wissen, glaube ich, auch die großen Technologiefirmen und Plattformbetreiber selbst. Sie dürften kein gesteigertes Interesse daran haben, unsere Demokratie zu unterhöhlen – denn es geht auch um ihr eigenes Überleben.

Amerika und Europa haben in diesen Monaten die historische Chance, gemeinsam freiheitliche und demokratische Antworten zu finden. Wir wissen, in Russland und China ist die lückenlose Herrschaft über das Internet ein bestimmendes Element moderner autoritärer Regime geworden. Digitale Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung, elektronische Angriffe auf demokratische Staaten und attraktive, offene Gesellschaften sind Zeichen eines auch digitalen Systemkonflikts. Dem Modell der digitalen Diktatur müssen wir eine demokratische Alternative entgegensetzen.

Natürlich gibt es zwischen Europa und den USA unterschiedliche kulturelle, politische und rechtliche Prägungen, etwa mit Blick auf die Meinungsfreiheit, den Datenschutz oder die Regulierung von Wirtschaftsunternehmen. Umso wertvoller ist die zunehmende Konvergenz der Diskussionen, die in den USA eben nicht mehr allein auf unbeschränkte Freiheit und unbeschränkte Profite hinauslaufen und die in der EU eben nicht mehr nur auf die Gefahren von Marktdominanz und Wettbewerbsverzerrung ausgerichtet sind.

Beide Seiten haben erkannt: Im digitalen öffentlichen Raum geht es ums Grundsätzliche, um die Zukunft der Demokratie, von der auch Präsident Biden spricht. Darin liegt die Chance für eine gemeinsame Agenda, für eine Neubegründung der transatlantischen Partnerschaft.

Ich hoffe, Amerika und Europa werden dieser Chance gerecht. Es wäre ein erster, wichtiger Schritt hin zu einer freiheitlichen ""Technosphäre"", einer Art globalen Übereinkunft zur Zukunft der Demokratie. Der digitale öffentliche Raum ist eine kritische Infrastruktur jeder künftigen Weltordnung. Gemeinsam mit anderen Demokratien der Welt kann es uns gelingen, das offene Internet zu erhalten und den digitalen Raum als einen Raum der Freiheit zu verteidigen.

Ob und wie uns ein transatlantischer Wurf für den digitalen öffentlichen Raum gelingen kann, wollen wir heute miteinander diskutieren. Ich bin mir sicher, die Gelegenheiten zum Abwägen unserer Positionen, zum Ausloten unserer Gemeinsamkeiten werden uns nicht ausgehen bei all den vielen Themen, die im Raum stehen.

Zunächst die grundlegende Frage, inwieweit die Betreiber der Plattformen für Inhalte verantwortlich sein und dafür haften sollten. Welche Regeln und Standards werden angewendet, wie kann Transparenz und Vertrauen entstehen? Wie viel kann über private Hausregeln funktionieren, wie viel demokratisch legitimierte Vorgaben, Kontrolle und Aufsicht braucht es von außen? Wie können wir den Graubereich des ""harmful content"" in den Griff bekommen? Welche Art von inhaltlichem Eingriff ist zielführend – vorübergehende oder dauerhafte Löschung einzelner Inhalte, Sperrungen von Konten, Warnschilder bei Twitter und anderen, Peer-Review wie auf der Wikipedia, volle Transparenz oder sogar Verbot bei gezielter Werbung? Und wo liegen die Grenzen sinnvoller Regulierung?

Noch grundlegender ist die Frage: Können kommerzielle Plattformen pluralistische und demokratische Prinzipien überhaupt umsetzen? Sind die aktuellen Geschäftsmodelle überhaupt auf Dauer mit der Demokratie vereinbar? Braucht es, auch mit Blick auf die Datenhoheit, vielleicht mehr Beschränkungen, neue Modelle und andere Formen der Finanzierung, zum Beispiel durch Bezahldienste? Und wie weit tragen uns vergangene Erfahrungen mit der Regulierung des öffentlichen Raums?

Schließlich auch das: Wie können wir die Initiativen, Behörden und NGOs bestärken, die sich um gelingende öffentliche Räume im Digitalen kümmern? Was können wir den Menschen mitgeben, um ihre Mündigkeit und Resilienz im digitalen Raum zu stärken? Wie können angesichts der technologischen und wirtschaftlichen Übermacht der Platzhirsche attraktive Alternativangebote entstehen und Marktanteile erringen?

Es wird nicht leicht werden, auf diese Fragen eine gemeinsame Antwort zu finden. Heute wollen wir uns Zeit dafür nehmen – und in dieser Zeit wollen wir diskutieren, liebe Frau Vestager, lieber Herr Nassehi, lieber Herr Scott. Seien Sie alle herzlich willkommen.

Ich freue mich auf eine spannende und erhellende Diskussion.

[5

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat – in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung – am 1. März zu einer weiteren Veranstaltung in der Reihe ""Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie"" ins Schloss Bellevue eingeladen.

Die elfte Veranstaltung der Reihe widmete sich dem Thema ""Demokratie und digitale Öffentlichkeit – Eine transatlantische Herausforderung"". Zusammen mit seinen Gästen diskutierte der Bundespräsident über eine der drängendsten Fragen für unsere Zukunft als Demokratie: Wie umgehen mit dem digitalen Strukturwandel unserer Öffentlichkeit? Im Zentrum standen dabei die Chancen einer neuen transatlantischen Kooperation, um die demokratische Öffentlichkeit im Zeitalter der digitalen Kommunikationsplattformen zu stärken.

Die Gäste des Bundespräsidenten brachten die transatlantische, europäische sowie die nationale Perspektive zusammen: Die Dänin Margrethe Vestager ist seit 2014 EU-Kommissarin für Wettbewerb und seit 2019 zudem geschäftsführende Vizepräsidentin und Kommissarin für Digitales. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und veröffentlichte 2019 sein Buch ""Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft"". Der US-Amerikaner Ben Scott ist Geschäftsführer des Thinktanks ""Luminate"" und entwickelt Lösungskonzepte für die Herausforderungen des digitalen Strukturwandels.

Eine funktionierende Demokratie ist auf den öffentlichen Diskurs, den Austausch von Argumenten, Informationen und Meinungen angewiesen. Der Bundespräsident und seine Gäste widmeten sich daher einer grundlegenden Frage für die Zukunft der Demokratie, wenn sie über die Bedeutung und Herausforderungen des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit sprachen.

Dabei ging es um die Verantwortung der Plattformen, um Regulierung und politische Gestaltung sowie die Frage, wie die bestehenden Plattformen stärker auf die ethischen Grundsätze eines vielfältigen und informierten Austauschs verpflichtet werden können. Der Bundespräsident und seine Gäste gingen Fragen nach wie: Welche Rahmenbedingungen sind erforderlich, damit neue Plattformangebote entstehen, die einen Beitrag zu einer pluralen demokratischen Öffentlichkeit leisten? Welche Ansätze müssen verfolgt werden, um den digitalen Strukturwandel so zu gestalten, dass er die demokratische Öffentlichkeit stärkt?

Das Internet verlangt grenzüberschreitende, europäische und transatlantische Antworten. Kann also die Europäische Union – wie es ihr bei der Datenschutzgrundverordnung zugeschrieben wird – erneut Standards mit globaler Wirkung setzen? Und wie lässt sich ein neues Kapitel der Kooperation zwischen Europa und den USA in digitalen Fragen aufschlagen?

Die Veranstaltung fand aufgrund der geltenden Abstands- und Hygienemaßnahmen ohne Publikum statt und konnte als öffentlicher Livestream verfolgt werden

.

[6

The eleventh "Forum Bellevue on the Future of Democracy" on March 1, 2021, focused the topic of "Democracy and the Digital Public Sphere – A Transatlantic Challenge". The Federal President explored one of the most pressing questions for our democratic future: How to deal with the digital structural change of our public sphere? The focus was on the possibilities of a new transatlantic cooperation to strengthen the democratic public sphere in the age of digital communication platforms.

The Federal President brought together the transatlantic, European as well as the national perspective: Denmark’s Margrethe Vestager has been EU Commissioner for Competition since 2014 and has also been Executive Vice President and Commissioner for Digital Affairs since 2019. Armin Nassehi is a professor of sociology at Ludwig Maximilian University in Munich and in 2019 published his book "Muster. Theory of Digital Society." The U.S. American Ben Scott is managing director of the think tank "Luminate" and develops solutions for the challenges of digital structural change.

[7... aus der wir die ersten zwei absolut nichtssagenden Minuten des Vorspanns ausgeklammert haben.


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