Im November nahm ein Superspreader-Event seinen Lauf, über das seitdem alle Welt redet. Binnen kürzester Zeit wurden Hunderttausende angesteckt. Aber nicht mit einem gefährlichen Virus, sondern mit einem Verschwörungsmythos.
Es war die böswillige Mär von der gestohlenen Wahl, die sich in Windeseile über die sozialen Medien verbreitete. Diese Lüge hat den Angriff eines bewaffneten Mobs auf das amerikanische Kapitol entfesselt, auf eines der ältesten und ehrwürdigsten Parlamente der Welt.
Ich begrüße Sie zu diesem Forum Bellevue, aus bekannten Gründen fast ganz digital, an den Bildschirmen in Europa und den USA. Nicht über die Pandemie, sondern über die Demokratie wollen wir heute sprechen, über die Demokratie und ihre öffentlichen Räume im digitalen Zeitalter. Anlass gibt es wahrlich genug.
Die digital befeuerten Angriffe gegen die Demokratie rund um die US-Wahlen sind das eine, die digital vernetzten Demonstrationen für die Demokratie in Russland und Belarus das andere. Und mittendrin, hier in Deutschland, stehen uns dieses Jahr in Bund und Ländern sieben Parlamentswahlen ins Haus, die ersten zwei bereits in zwei Wochen. Schon seit Jahren spüren wir es, auf der ganzen Welt: Wenn es um die Sache der Demokratie geht, ist die digitale Revolution beides – Fluch und Segen, Chance und Gefahr.
Digitale, allen zugängliche Medien erscheinen zunächst wie eine urdemokratische Verheißung, ein öffentlicher Raum ohne Grenzen und Barrieren, in dem jeder von allen empfangen und an alle senden kann. Doch spätestens jetzt, nach den Fernsehbildern aus Washington, sollte jede Illusion verflogen sein. Die nüchterne Wahrheit ist: Neue Freiheit braucht neue Verantwortung, damit der digitale öffentliche Raum nicht in Chaos und Selbstzerstörung endet.
Die Demokratien der Welt müssen ihre Verfasstheit auch im Digitalen sichern, gegen Feinde von innen wie außen. Besonders die Plattformen der sozialen Medien treiben uns um. Soziale Medien verstärken das Beste und das Schlimmste in unseren Gesellschaften. Für die Demokratie sind sie deshalb weder Allheilsbringer noch Abrissbirne. Aber die digitalen Plattformen sind inzwischen fester Bestandteil, ja mehr noch: Mitarchitekten und Taktgeber unseres demokratischen öffentlichen Raums – und deshalb ist es höchste Zeit, dass wir uns intensiver um sie und ihre gesellschaftlichen Folgen kümmern.
Seit dem Amtswechsel in den Vereinigten Staaten ist das Problem auf beiden Seiten des Atlantiks hoch auf der Agenda. Die Europäische Union, liebe Frau Vestager, arbeitet an einer breit angelegten Regulierung des digitalen öffentlichen Raums, einem Common Rule Book für die Digitalwirtschaft, und hat den USA erst kürzlich ein gemeinsames Vorgehen angeboten. Präsident Biden plant einen Gipfel für die Demokratie und hat in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Zukunft der Demokratie in den Mittelpunkt seiner Botschaft gestellt: ""America is back.""
Die liberale Demokratie ist das, was uns über den Atlantik stärker verbindet als alles andere. Viel spricht deshalb dafür, dass die Fragen, über die wir heute das Gespräch suchen, ein wesentliches, vielleicht sogar das zentrale Element einer neuen transatlantischen Agenda werden.
Der öffentliche Raum einer Demokratie soll vieles leisten: die Pluralität der Gesellschaft abbilden und allen zugänglich sein, vernünftige Debatten fördern und Räume für neue Ideen und politische Ziele öffnen, verlässliche Informationen bereitstellen und die demokratische Mündigkeit aller bestärken. Diese Ideale weisen uns seit der Aufklärung den Weg. Jeder Schritt weg von ihnen, jede Beschädigung unserer öffentlichen Räume bleibt nicht folgenlos für die Demokratie.
Das rechtfertigt nicht die inflationär zunehmenden Abgesänge auf die Demokratie. Aber schon 2009 warnte der ehemalige Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, dass die Verteilung von Aufmerksamkeit im digitalen öffentlichen Raum die entscheidende Machtfrage ist. Wer direkten Zugang zu den Smartphones und Laptops der Menschen hat, wer über den nächsten Inhalt entscheidet, übt Macht aus.
Den direktesten Zugang zu den Menschen haben heute die sozialen Medien – und ihr werbefinanziertes Geschäftsmodell verlangt Aufmerksamkeit um fast jeden Preis. Die Algorithmen von Facebook und YouTube, Twitter und TikTok lenken unsere Aufmerksamkeit mit eiskalter Präzision, auf Grundlage unserer eigenen Datenmuster, nach genau zwei Kriterien: Welche Inhalte binden mich längstmöglich an den Bildschirm? Und wie kann während dieser Zeit möglichst viel Umsatz mit maßgeschneiderter Werbung erzeugt werden?
Nichts bindet Menschen offenbar so sehr an ihre Geräte wie Erregung und Empörung, Angst und Wut. Die Algorithmen lernen, die individuellen Newsfeeds und Autoplay-Videofolgen immer aufregender und spektakulärer zu gestalten – auch dann, wenn es um Politik und das öffentliche Wohl geht. Wenig gelten dabei die Werte, auf denen unsere Demokratien gebaut sind: Respekt, Wahrheit und Zivilität, Vernunft, Fakten und Verantwortungsgefühl. Anders als selbst bei einer Boulevardzeitung gibt es keine Redaktion, keinen Presserat und keine Konkurrenz, die mäßigend und kontrollierend einschreiten. Im Gegenteil, Ausgleich und Mäßigung stören das Geschäft. Einen rein gewinnmaximierenden Algorithmus schert weder, was wahr oder falsch ist noch mit welchem Ziel ein bestimmter Inhalt erstellt wurde. Aber er kann ziemlich gut vorhersagen, was jeden individuell an den Bildschirm fesselt.
So werden Geschwindigkeit und Zuspitzung belohnt, bleiben Einseitigkeit und Unwahrheit unwidersprochen, Demagogie und Propaganda zu oft ungerügt. Die sozialen Medien prämieren viel zu oft die schnelle Lüge – auf Kosten von Vernunft und Wahrheit. Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit wird zur Gefahr für die Demokratie.
Und die Feinde der Demokratie nutzen diese Schwachstellen leider am besten. Mit Lug und Trug befeuern sie die Aufmerksamkeitsmaschinen der sozialen Medien gekonnt zum eigenen Vorteil. Und am Ende besetzen Aufständische das Kapitol.
Die Folgekosten dieses großen Strukturwandels unserer öffentlichen Räume entstehen nicht unmittelbar durch die Digitalisierung unserer Kommunikation an sich. Im Gegenteil, kaum eine Technologie birgt zunächst einmal mehr Chancen, pluralistische öffentliche Räume zu schaffen, allen frei zugänglich, grenz-, milieu- und größtenteils generationenüberschreitend.
Nein, die Kosten des Strukturwandels der Öffentlichkeit entstehen durch konkrete demokratiepolitische Versäumnisse der den Markt beherrschenden Plattformen. Diese Konstruktionsfehler schaden dem öffentlichen Raum – und die Demokratie wird zum Kollateralschaden des Geschäftsmodells.
Es geht dabei ums Grundsätzliche. Wenn aus jeder Lüge ein Dogma werden kann, jede Debatte zum Schreikrampf verkommt, alle nur noch in ihren Echokammern hocken, jede Meinungsverschiedenheit gleich droht, den demokratischen Gesellschaftsvertrag aufzukündigen, und am Ende niemand dafür verantwortlich sein will, dann sind Politik und Rechtsstaat gefordert. Nicht nur, um Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Sondern um die Existenz der Demokratie zu sichern.
Die absichtsvolle Manipulation unserer Aufmerksamkeit bedient gut bekannte psychologische Schwachstellen des Menschen. Hier versagt ein Markt, der von wenigen Anbietern dominiert wird. Er schafft ein gesellschaftliches Übel, indem er unsere schlechtesten Instinkte bedient. Und wir kennen die aufgeklärte Antwort auf solche Übel – nämlich Rechtsstaat, Regeln und Institutionen.
Die großen Plattformbetreiber haben sich lange gewehrt gegen Kontrolle und gegen ihre eigene Verantwortung für den öffentlichen Raum, den sie mit ihrer Infrastruktur geschaffen haben. Probleme hat man relativiert oder kleingeredet, keinerlei Haftung für Inhalte übernommen, die eigenen Angebote lieber zum privaten Zimmer für Familienklön und Urlaubsfotos erklärt – und dennoch Milliarden verdient mit politischem Content und der journalistischen Arbeit anderer. Regulierung wurde lange zum Feind der Freiheit erklärt.
Das Gegenteil ist der Fall: Damit Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben, braucht es Regeln. Umso bemerkenswerter ist es, wenn nicht mehr nur Player wie Apple und Microsoft, die ein anderes Geschäftsmodell verfolgen, nach Regulierung der werbefinanzierten Konkurrenz rufen, sondern wenn selbst ein Mark Zuckerberg sagt: ""Big Tech needs more regulation.""
Stimmt. Solange die Unternehmen den Kurs nicht ändern, mag so ein Ruf nach Regeln zynisch klingen. Aber die Zeichen mehren sich, dass Facebook und Co. die Geister nicht mehr loswerden, die sie riefen – und ihnen die scharfe Kritik, die da auf sie einstürzt, zunehmend zusetzt. Wir sollten den Ruf nach Regeln jedenfalls beim Wort nehmen.
Und zum Glück haben wir nach wie vor funktionierende öffentliche Räume, zum Glück gibt es eine breite Debatte über die Zukunft der digitalen Öffentlichkeit. Gegen Desinformation und Hass engagiert sich ein immer breiteres zivilgesellschaftliches Bündnis – und fordert zugleich bessere Regeln. Und der Erfolg von Dokumentationen wie ""The Social Dilemma"" zeigt, dass weltweit inzwischen ein Millionenpublikum das Problem verstehen kann und verstehen will.
Seit Jahren wird über passende Regulierungen nachgedacht – und gestritten, nicht nur in Washington und Brüssel, auch hier in Berlin, etwa beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Die angemessene Vergütung journalistischer Inhalte, um die gerade in Australien gerungen wurde, ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte. Fast noch wichtiger ist der Graubereich aus zwar legalem, in millionenfacher Wiederholung aber demokratieschädlichem ""harmful content"", wie die systematische Lüge von der gestohlenen Wahl.
All diese Debatten sind gute Nachrichten. Denn es geht in all diesen Debatten, so kleinteilig und technisch sie manchmal wirken, um nicht weniger als die Demokratisierung des Digitalen. Die Demokratie ist nicht irgendein Geschäftsmodell, kein analoges Relikt, reif für digitale Disruption. Im Gegenteil: Demokratie und Rechtsstaat sind die Grundlagen unseres Zusammenlebens als freie und mündige Bürger. Die Demokratie hat die Entwicklung eines freiheitlichen Internet, vielleicht sogar die digitale Revolution an sich überhaupt erst möglich gemacht. Das wissen, glaube ich, auch die großen Technologiefirmen und Plattformbetreiber selbst. Sie dürften kein gesteigertes Interesse daran haben, unsere Demokratie zu unterhöhlen – denn es geht auch um ihr eigenes Überleben.
Amerika und Europa haben in diesen Monaten die historische Chance, gemeinsam freiheitliche und demokratische Antworten zu finden. Wir wissen, in Russland und China ist die lückenlose Herrschaft über das Internet ein bestimmendes Element moderner autoritärer Regime geworden. Digitale Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung, elektronische Angriffe auf demokratische Staaten und attraktive, offene Gesellschaften sind Zeichen eines auch digitalen Systemkonflikts. Dem Modell der digitalen Diktatur müssen wir eine demokratische Alternative entgegensetzen.
Natürlich gibt es zwischen Europa und den USA unterschiedliche kulturelle, politische und rechtliche Prägungen, etwa mit Blick auf die Meinungsfreiheit, den Datenschutz oder die Regulierung von Wirtschaftsunternehmen. Umso wertvoller ist die zunehmende Konvergenz der Diskussionen, die in den USA eben nicht mehr allein auf unbeschränkte Freiheit und unbeschränkte Profite hinauslaufen und die in der EU eben nicht mehr nur auf die Gefahren von Marktdominanz und Wettbewerbsverzerrung ausgerichtet sind.
Beide Seiten haben erkannt: Im digitalen öffentlichen Raum geht es ums Grundsätzliche, um die Zukunft der Demokratie, von der auch Präsident Biden spricht. Darin liegt die Chance für eine gemeinsame Agenda, für eine Neubegründung der transatlantischen Partnerschaft.
Ich hoffe, Amerika und Europa werden dieser Chance gerecht. Es wäre ein erster, wichtiger Schritt hin zu einer freiheitlichen ""Technosphäre"", einer Art globalen Übereinkunft zur Zukunft der Demokratie. Der digitale öffentliche Raum ist eine kritische Infrastruktur jeder künftigen Weltordnung. Gemeinsam mit anderen Demokratien der Welt kann es uns gelingen, das offene Internet zu erhalten und den digitalen Raum als einen Raum der Freiheit zu verteidigen.
Ob und wie uns ein transatlantischer Wurf für den digitalen öffentlichen Raum gelingen kann, wollen wir heute miteinander diskutieren. Ich bin mir sicher, die Gelegenheiten zum Abwägen unserer Positionen, zum Ausloten unserer Gemeinsamkeiten werden uns nicht ausgehen bei all den vielen Themen, die im Raum stehen.
Zunächst die grundlegende Frage, inwieweit die Betreiber der Plattformen für Inhalte verantwortlich sein und dafür haften sollten. Welche Regeln und Standards werden angewendet, wie kann Transparenz und Vertrauen entstehen? Wie viel kann über private Hausregeln funktionieren, wie viel demokratisch legitimierte Vorgaben, Kontrolle und Aufsicht braucht es von außen? Wie können wir den Graubereich des ""harmful content"" in den Griff bekommen? Welche Art von inhaltlichem Eingriff ist zielführend – vorübergehende oder dauerhafte Löschung einzelner Inhalte, Sperrungen von Konten, Warnschilder bei Twitter und anderen, Peer-Review wie auf der Wikipedia, volle Transparenz oder sogar Verbot bei gezielter Werbung? Und wo liegen die Grenzen sinnvoller Regulierung?
Noch grundlegender ist die Frage: Können kommerzielle Plattformen pluralistische und demokratische Prinzipien überhaupt umsetzen? Sind die aktuellen Geschäftsmodelle überhaupt auf Dauer mit der Demokratie vereinbar? Braucht es, auch mit Blick auf die Datenhoheit, vielleicht mehr Beschränkungen, neue Modelle und andere Formen der Finanzierung, zum Beispiel durch Bezahldienste? Und wie weit tragen uns vergangene Erfahrungen mit der Regulierung des öffentlichen Raums?
Schließlich auch das: Wie können wir die Initiativen, Behörden und NGOs bestärken, die sich um gelingende öffentliche Räume im Digitalen kümmern? Was können wir den Menschen mitgeben, um ihre Mündigkeit und Resilienz im digitalen Raum zu stärken? Wie können angesichts der technologischen und wirtschaftlichen Übermacht der Platzhirsche attraktive Alternativangebote entstehen und Marktanteile erringen?
Es wird nicht leicht werden, auf diese Fragen eine gemeinsame Antwort zu finden. Heute wollen wir uns Zeit dafür nehmen – und in dieser Zeit wollen wir diskutieren, liebe Frau Vestager, lieber Herr Nassehi, lieber Herr Scott. Seien Sie alle herzlich willkommen.
Ich freue mich auf eine spannende und erhellende Diskussion.