Jeden Tag kommen neue Kultur-, Kunst- und Kinder-Angebote ins Netz. Und das mit einer solchen Wucht, dass sich die Landesmedienanstalten entschlossen haben, ihre bisher geltenden Regeln aufzugeben: bis zum 19. April 2020 kann man sich auf YouTube und vergleichbaren Portalen tummeln, ohne bei mehr als 500 gleichzeitig zugeschalteten ZuschauerInnen sogleich eine Rundfunk-Lizenz beantragen zu müssen.
Das Thema ist offensichtlich in den letzten Wochen und Tagen so virulent geworden, dass heute in der FAZIT-Sendung vom Deutschlandfunk Kultur sogar ein Rechtsanwalt zugeschaltet wurde, um den Sachverhalt zu erklären und zu durchleuchten [1].
Bei der Vorbereitung dieses Textes war es zunächst die Absicht, auch hier eine sich Zug um Zug ergänzende Zusammenstellung all jener Angebote einzustellen, die sich neben dem bereits etablierten Repertoire neu zu etablieren beginnen. Dieses Vorhaben wird nicht durchgeführt werden (können). Die Arbeit an dem vor einer Woche aufgesetzten Text zum Thema Videokonferenz-Systeme machte deutlich, welche Eigendynamik bei dem Erstellen einer solchen Seite entsteht, und wie viel Kraft und Zeit es kostet, auf die über den Tag hinaus gehenden Hinweise und Promo-Mails, aber auch Einwände und Korrekturen, zu reagieren.
Also werden am Schluss dieses Textes nur einige wenige ausgesuchte Beispiele präsentiert werden, einmal mehr als "pars pro toto", um einen der Lieblingsbegriffe aus den Eintragungen der letzten Jahre hier nochmals ganz bewusst aufzugreifen
Viel wichtiger als hier eine Art digitaler Programm-Zeitschrift aufzumachen ist der Umstand, der in der Frage begründet liegt, schon jetzt herauszufinden, was das alles für uns für die "Zeit danach" bedeuten wird.
Dazu die folgenden 10 Thesen:
1. Irgendwann wird es auch eine "Zeit danach" geben, aber die Bedrohung, die erstmals mit dem Grippe-Virus dieses Typs in 1918 [2] auftrat, wird bestehen bleiben. Man wird sie gewissermassen "eingemeinden", bestenfalls mit einer Impfung besser abwehren können als das zur Zeit möglich ist, aber wirklich überwinden: Nein.
2. Aktuell hat keiner von uns mehr jene Erfahrungen parat, die die Menschen in Zeiten vorangegangener Bedrohungen durchgemacht und dann auch zu berichten hatten. Es gibt für so etwas keine kollektives permanent zu reaktivierendes Gedächtnis. Ein Problem das wir zuletzt - auch wenn manchen der Vergleich unangemessen zu sein scheint - bei der Frage diskutierten, als es um die Forderung des "Nie wieder..." angesichts der Juden- und Sinti- und Roma-Verfolgungen in Deutschland ging
3. Für viele Menschen ist diese Zeit seit jenen Tagen nach dem zweiten Weltkrieg die grösste der bisherigen Herausforderungen. So hört man es immer häufiger sagen. Der französische Präsident nimmt mit seinem « Nous sommes en guerre » in seiner Ansprache sogar ganz bewusst diesen Bezug immer wieder auf, und auch die deutsche Kanzlerin verweist auf diese historische Dimension [3]. Und dennoch ist und bleibt das Ganze eine Gefährdung in einer dazu immer noch lange nicht vergleichbaren Dimension. Was bedeuten die Ausverkäufe von Toilettenpapier angesichts des Umstandes, dass einst die Arbeit in den Latrinengruben in den Konzentrationslagern zumindest die Chance in sich barg, auch im Winter bei der Arbeit im Freien nicht erfrieren zu müssen...
4. Bei allen Herausforderungen durch die nach wie vor wirkenden inneren wie äusseren Feinde: Inzwischen sind zwei neue Generationen herangewachsen, die keinen Krieg mehr haben mit-erleben müssen. Und dass sich aus dieser Nicht-Erfahrung ganz andere Perspektiven, aber auch Probleme, in den Vordergrund geschoben haben, ist nur folgerichtig. Dabei reden viele von uns nur über das, was uns nach der Jahrtausendwende schon bedroht haben mag: über den Zusammenbruch der Dot.Com-Ökonomie-Blase und die Lehmann-Pleite, über das "Eindringen der Massen von Geflüchteten in unsere Lebensräume" und jetzt die Erfahrung, dass man vor einem Virus nicht fliehen kann...
5. Not macht erfinderisch. Und führt zunächst dazu, dass viele Tugenden und Werte wieder entdeckt werden, deren wir uns schon früher bewusst waren, die aber im Trubel des Alltags mehr und mehr verschütt gegangen sind: Respekt und Geduld, Toleranz und Empathie, die Bereitschaft, zuzuhören und die Kraft, die Wahrheit sagen zu wollen. In all diesen, mit all diesen Punkten er-finden wir in diesem Sinne eigentlich nichts neu. Sondern wir blicken zurück, was wir vielleicht bislang, was wir zuvor schon hätten besser machen können, wie wir schon zuvor zu einer noch lebenswerteren Existenz im Umgang mit unseren Mitmenschen hätten beitragen können.
6.Da capo. Al fine? Einst standen in Kriegszeiten die Menschen vor den Läden, um noch das letzte Stück Brot für sich und die ihnen Nächsten ergattern zu können. In New York stehen die Menschen jetzt vor den Spitälern Schlange, um darüber Gewissheit erlangen zu können, wie es um sie bestellt sei. Und dann bekommt die Stadt Hilfslieferungen zur Diagnose aus China zugeschickt, die technisch und von der Ergebnisse her nicht das erfüllen, was man sich dort vor Ort erwartet hat. "Das, was wir hier in den Krankenhäusern erleben, ist die Hölle", lässt sich ein Arzt vor der Kamera vernehmen [4]. Und dabei ist das Ende überhaupt noch nicht abzusehen. [5].
7. Jetzt aber mal halblang: Noch gibt es zu essen und zu trinken, es gibt fliessendes Wasser und Strom. Und wir beginnen endlich zu erkunden und zu begreifen, welche neuen Möglichkeiten die Digitalisierung unser Arbeitswelt inzwischen für die ganz konkrete Lebensführung zur Folge gehabt hat. Während wir zunehmend entdecken wie es ist, gemeinsam alleine zu sein, entdecken wir auch neue Möglichkeiten, dieser Einsamkeit durch den Einsatz der für viele auch heute noch neuen Mittel und Wege zu entkommen. Zumindest virtuell.
8. Vieles von dem, was schon in den vergangenen Jahre, ja, Jahrzehnten, erfunden worden und zum Einsatz gebracht worden war, rückt jetzt, sozusagen "notgedrungen", in den Mittelpunkt des täglichen Lebens und Arbeitens. Von der Videokonferenz bis zur Virtualität. Jede, jeder von uns kann potenziell einen Text wie diesen schreiben, ins Netz stellen und zur Reflexion und Diskussion anbieten. Die Rundfunk-Anstalten werden immer leerer, die Chat-Rooms immer voller. Aus dem Wunsch, sich zu besuchen, entwickelt sich das Bedürfnis, nach anderen Möglichkeiten der Nähe zu suchen, auch wenn sich diese nur noch virtuell zu manifestieren vermag. Und so beginnen wir, endlich, Zug um Zug zu begreifen, was all das bedeutet, was wir bisher mit dem Begriff der Digitalisierung zwar benannt, aber bei weitem noch nicht verstanden haben.
9. Das, was uns die aktuelle Bedrohung lehrt, nämlich gemeinsam allein sein zu können, ist das, was wir in den letzten Jahrzehnten schon in Folge der Digitalisierung mehr und mehr praktiziert haben. Vielleicht haben wir auch schon früher davon gewusst, was das für uns bedeutet, aber dennoch hatten wir darüber bislang kaum ein kollektives Bewusstsein. Und es wird auch jetzt noch eine Zeitlang dauern, bis uns klar geworden sein wird, was das eigentlich bedeutet, das wir nun nicht nur von Wasser und Brot abhängig sind, sondern auch von der Zuvor vom Strom und Streaming. Und zwar nicht nur in dem vordergründigen Sinne des aktuellen Konsumverhaltens. Sondern auch in der Erfahrung dessen, was wir dabei sind, inzwischen alles aufgegeben zu haben. Von den Telefonen, die nun, spätestens seit der Abschaffung von ISDN, über keine Notstromversorgung mehr gespeist werden können bis hin zum Rundfunk, der zu Beginn seiner Entwicklungsgeschichte noch stromlos mit selbst gebauten Detektoren empfangen werden konnte.
10. Was wollen wir? Zurück in die insofern immer noch "gute alte Zeit", als die Fieberthermometer noch in Glaskolben eine Quecksilbersäule nutzen, um die für uns persönlich relevanten Werte anzuzeigen, Weerte, die über unseren eigenen Zustand objektiv Kunde gaben - und das unabhängig davon, ob es eine Batterie gibt, die die Anzeige solcher Werte erst ermöglicht [6] ? Zurück in die Welt, in der allein aus der spurrillenförmigen Ausformungen des Schnelllacks die Tonnadel einen Klang bis auf die grosse Hörmuschel übertragen und zum Klingen bringen konnte [7] ? Eine Krise wie diese wird uns dazu zwingen endlich zu begreifen, was heute schon längst not-wendig gewesen wäre, und darauf einzustellen, dass wir heute in einer Welt leben, in der die "Lebenszeit" eines Gegenstandes nicht mehr durch seine physikalischen Schwächen begrenzt ist, sondern ein neuer Softwarestand den "End-of-Live" - Status eines uns bislang nützlichen Gerätes anzeigt. Wir, die wir in der Gnade einer Zeit aufgewachsen sind, immer noch älter weden zu können als vor uns lebende Generationen, werden plötzlich mit einer "End-of-Live"-Statusanzeige konfrontiert, auf die wir so bislang nicht vorbereitet waren.
Also brauchen wir demnächst ein neues Zehn-Punkte-Programm, das uns in und durch diese neue Zeit führt, die neuen "10 Gebote"?!