Die Ankündigung
Heute ab 19:30 Uhr das Schauspiel:
Die unvorstellbaren Folgen einer eingebildeten Revolution
Heute ab 19:00 Uhr eine Werkeinführung
Veranstalter:
Theaterakademie August Everding
Die Besetzung:
Regie Dimitrij Schaad
Co-Regie Alex Schaad
Dramaturgie Lüder Wilcke
Kostüm Lara Hohmann
Bühne Peter Hofmann
Ton Udo Terlisten
Licht David Jäkel
Video Thilo David Heins
Regieassistenz Nathalie Schörken
Mit Giulia Goldammer, Philip Lemke, Leonard Dick, Lisa Schwarzer, Karolina Nägele, Clara Liepsch, Lena Hilsdorf, Thekla Hartmann, Leon Haller, Peter Blum
Zur Einführung:
Das patriarchale System liegt im Sterben, aber verrecken will er einfach nicht, der todkranke Familienpatriarch, dem so ziemlich alles nachgesagt wird, was man dem alten, reichen, weißen, heterosexuellen Mann vorwerfen kann. Er war ein Rassist, ein Chauvinist, ein hemmungsloser Ausbeuter, ein machtgeiler Sexist, der fünf Kinder in die Welt setzte, die jetzt samt Anhang zusammenkommen.
Wer soll diese Welt aus ihrem beschissenen, bluthustenden Zustand in eine bessere Zukunft führen?
Nach Die Konsistenz der Wirklichkeit, der mehrfach prämierten Inszenierung aus der vergangenen Spielzeit, entwickelt Dimitrij Schaad nun erneut ein Stück für und mit den Schauspielstudierenden der Theaterakademie. Ausgehend von eigenen Erfahrungen, Gedanken und Fragen, die sie umtreiben, bringen sie Figuren auf die Bühne, die sich in der Schwebe zwischen Selbstoffenbarung und Fiktion, zwischen authentischem Konflikt und erzählerischem Drama befinden.
Das Programmheft
Die unvorstellbaren Folgen einer eingebildeten Revolution
(M)eine Zuschauerreaktion
Nein
Dieser nachfolgende Text ist keine Theaterkritik im klassischen Sinne. Genauso wenig, wie die heute erlebte Stunde auf der Bühne des Akademietheaters eine Theateraufführung im klassischen Sinne war. Es ist das Surrogat einer intensiven Zusammenarbeit aller Beteiligten SchauspielerInnen, Dramaturgie und Design, das sich dem Publikum in Form einer Szenischen Kollage, einer Nummern-Revue, einer Abfolge von Offenbarungen zur Darstellung bringt.
Alles - und Nichts
Alles an diesem Abend Erlebte ist ehrlich. Die jungen Menschen, die sich hier auf die Bühne stellen, haben den Mut gehabt, in sich selbst hineinzuhören, einander zuzuhören, auf die Regie zu hören... und immer wieder neu aus dem Zweifel an sich selbst und an ihrer Arbeit Funken zu schlagen.
Das alles ist überzeugend, authentisch und mit Verve vorgetragen.
Und doch ist es nicht Alles, was ein Theater zu vermitteln vermag: Es ist kein Theaterstück, es ist nicht nachvollziehbar, warum bestimmte szenische Einfälle stattfinden, in welchem Zusammenhang sie mit den Aussagen stehen (könnten), die die SchauspielerInnen vortragen. Übertrieben gesagt, stehen sie den DarstellerInnen im Weg.
Bühne
Alles, was da an putzigen, lustigen, aus Gummi aufgeblasenen Versatzstücken auf die Bühne gestellt wird - von der Luftmatratze bis zu sterbenden Schwan, von der Sexpuppe bis zum Salonsessel - all das sind Fixierelemente, an denen die SchauspielerInnen sich immer wieder quasi festhalten können, als "Vermittlungskrücke", um das schier Unsagbare zum Ausdruck bringen zu können, was sie bewegt.
Das ist - vordergründig - gut so. Es gibt den handelnden - und sogleich sich selbst verhandelnden Personen - einen gewissen Halt. Es gibt die Mobilität, die sie für ihre jeweiligen Auftritte brauchten. Und als das Ganze am Ende mit den Sinn-Bildern des Tötens und Geborenwerdens akkumuliert - hier auch zugleich ein besonderes Lob an die beiden für diese Rollen ausersehenen SchauspielerInnen - findet das Ganze Herumgetue mit dem aufgeblasenen Gummizeug sogar so was wie (s)eine aus dem Spiel erwachsene innere Logik.
Und dennoch, kann das Bühnen"Bild" nicht retten, was da an Überforderung aller Beteiligten an diesem Abend vorgezeigt wurde.
Regie
Hier wurde das Ungeheuerliche versucht. Aus dem "Nichts" der individuellen Identitäten einen Rahmen zu bauen, ein konzeptionelles Framing zu platzieren, in dem die Individuen ihre eigenen Geschichten "zwischen Selbstoffenbarung und Fiktion" erzählen können. "It’s not a trick, it’s a Schaad" Und man wird lange darüber diskutieren können, ob dieser Versuch gelungen ist.
Persönlich gesagt: Im Nachgang zu dieser Aufführung wurde viel Energie, Zeit, viel Einfühlungsvermögen und fachliche Referenztechnik zum Einsatz gebracht, um darauf eine Antwort zu finden. Damit ist zumindest der Intention der Regie Rechnung getragen worden, näher an einem selbst als auch näher am Publikum zu sein.
Bingo. Beides ist offensichtlich gelungen. Die SchauspielerInnen machten ganz offensichtlich den Eindruck, dass das, was sie da spielen, sie auch etwas angeht. Und dass dieser Text hier entsteht, beweist, dass sie damit tatsächlich auch "näher am Publikum" waren, also zumindest am Autor dieser Zeilen.
Aber genau mit dem Versuch, diese Ziele zu erreichen, muss der Versuch, darüber hinaus auch noch einen "Theaterabend" zu gestalten, scheitern.
Das Stück
Denn: "das Stück" findet nicht statt. Die Auseinandersetzungen der Über-Lebenden um die im Sterben begriffene - und dann getötete - Vaterfigur wird mit einer grossen, gut gespielten Einführung zum Thema: Über das Glück eine Erbschaft machen zu können, eingeführt. Aber dann taucht dieses dramaturgisch gesetzte Element des Sprechers, des Ich-erkläre-hier-jetzt-mal-den-gesellschaftlichen-Kontext nie wieder auf.
Ebenso geht es einem mit der vorgelagerten ersten Szene, mit der in ein Stück eingeführt wird, das dann so nicht gespielt wird. Erst im Gespräch mit Beteiligten wird klar, dass es sich hierbei um eine Referenz an jene SchauspielerInnen handelt, die einst ein ganze Jahr lang daran gearbeitet haben, schliesslich in ihrem Affenkostümen die Einführungsszene aus Stanley Kubricks Film "2001– A Space Odyssey" ausgestalten zu können.
Einst, das war die Zeit noch vor dem 6. April 1968, an dem dieser Film in seiner endgültigen Fassung erstmalig in Los Angeles zur Aufführung gebracht wurde. Einst, das war der Mai 68 in Frankreich, in dessen Verlauf die Lehranstalten besetzt und wieder Barrikaden errichtet wurden.
Die Geschichte
Anstatt ein Stück über die Geschichte zu entwerfen, ist aus den jetzt vorgeführten Elementen ein "Stück" mit vielen einzelnen Geschichten vereinzelter junger Menschen entstanden. Von SchauspielschülerInnen, die das Glück hatten, sich in diesem Ensemble zusammenzufinden, um von sich als all jenen Bühnenfiguren zu berichten, die allesamt auf der Suche nach ihrem individuellen Glück sind.
Keine(r) von diesen Figuren vermittelt den Eindruck einer in sich ruhenden glücklichen Figur, um nicht zu sagen, einer gereiften Persönlichkeit. Ihre Gemeinsamkeit besteht - auf der Spielebene - viel eher darin, möglichst viel von einem potenziellen Erbe erhaschen zu können, von dem sie nicht wissen, ob es ihnen zusteht. Und letztendlich auch zukommen wird.
Und - auch wenn das vielleicht überinterpretiert sein mag - es ist aus der eigenen Wahrnehmung heraus auch ein Stück weit der Spiegel jener Furcht und Hoffnung vor dem/auf das, was sie in Zukunft mit ihrer Arbeit als SchauspielerInnen erreichen werden.
In dem Panoptikum dieser Figuren gibt es nur einen entschlossen handelnden Menschen: Jene junge Frau, die den "bösen" Vater dennoch über die letzten Jahre begleitet hat. Und die jetzt im Verlauf dieses Spiels insofern eine Handlung einbringt, als sie das Leben des Vaters vorzeitig beendet.
Aber danach erweist sich selbst ihr ihr-habt-es-doch-alle-gewollt-Gedanke als ein Trugschluss. All die anderen, die zuvor mit nicht enden wollender Gewalt gegeneinander aufgetreten sind, verweigern sich am Schluss der Gewalt, die sie in ihrer aller Namen dem Vater angetan hat.
Und so bekommen die ZuschauerInnen die Frage vorgesetzt, was nun die bittere Pille sei, die rote oder die blaue, die des kollektive ersehnten und vom Kollektiv dann doch verweigerten Vatermordes, oder die von der Akzeptanz der einzig handlungsbereiten Person, die am Ende der 60 Minuten doppelt alleine dasteht. Ohne Vater, ohne Geschwister. Und nun alleine darauf wartend, der Polizei gegenübergestellt zu werden.
Dramaturgie
Hier wird mit eigenen Worten nach-erzählt, was so in der Dramaturgie weder wirklich entwickelt noch in der Regie umgesetzt wurde. Das mag ein hartes Urteil sein. Und ist doch bei weitem alles andere als eine Verurteilung.
Hier wir vielmehr beschrieben - vielleicht sogar ein Stück weit analysiert - warum es nicht gelingen konnte, in so kurzer Zeit mit dann doch so begrenzten Mitteln die "Quadratur des Kreises" vollziehen und zur Wirkung bringen zu können: Ein Stück zu schreiben, das letztendlich kein Königsdrama sein will und doch den König der Familie "Humpty Dumpty" zu Fall bringt. Eine Revue zu inszenieren, die nicht auf den gleichen Metaphern aufbauen kann wie eine US-amerikanische Revue und die stattdessen versucht, im Schatten von aufblasbaren Gummisubstraten des Lebens das Leben selbst auf die Bühne zu stellen. Und der Versuch, politisch sein zu wollen und zu erkennen, dass Politik bei einem selbst anfängt und dieses Selbst der Grund ist, sich nicht politisch verhalten zu können.
Begründung
All das hier Gesagte bzw. Geschriebene bedürfte nochmals des Nachweises - im Detail. Das würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Diese Aussage soll daher an dieser Stelle nur an einem einzige Beispiel als pars pro toto festgemacht werden: In der Darstellung des Ensembles im Programmheft werden allen Team-Mitgliedern ihre Funktionen zugewiesen, den SchauspielerInnen aber nicht ihre Rollen! Damit sind und bleiben sie zu sehr sie selbst. Und das, was ihnen bei der Proben- und Gestaltungs-arbeit sicherlich zum Vorteil gereicht hat, wird ihnen schlussendlich zum Verhängnis.
Dieses fällt einem Autor, der die Schauspielerei liebt, schwer zu sagen (zumal ihm einige der Mitglieder dieses Ensembles aus eigener Regiearbeit persönlich näher bekannt sind). Aber der Autor liebt auch das Theater, das Ereignis, dass ohne all die hier Beteiligten und Gelobten nicht zustande gekommen wäre - und das, bestenfalls, noch grösser ist als sie.
Und die Moral?
Vielleicht ist es "ungerecht", mit einem solchen Massstab an die Aufführung einer Bachelor-Klasse einer solchen Theater-Akademie heranzugehen. Aber es wäre noch viel unfairer, nicht auf den explizit - wohl nicht nur von der Regie geäusserten - Willen, dem Publikum nahe sein zu wollen, zu reagieren.
Diese Nähe verbleibt nicht ohne Echo, auch wenn sie hier nur in dieser kursorischen textuellen Form zurückgegeben werden kann, an all jene, die ihren zukünftigen Beruf lieben - und dabei sind, einen Weg zu finden, sich selbst zu lieben.
PS
Nach dem Besuch der Aufführung, einer langen Aussprache und einem nicht enden wollenden Zögern, überhaupt zu dem Erlebten öffentlich Stellung zu beziehen, endete dieses aufwühlenden Ergebnis zunächst in einer, erstmals auf Einladung aufgesuchten und bis dahin nicht bekannten aber wunderbaren Bar.
Erzählt werden soll aber von diesem Besuch nur noch dieser Moment: In der Reihung der unendlich vielen Flaschen standen auch einige ganz hochgezogene mit einer hellen Flüssigkeit, mit einer Marke, die dem Autor nicht bekannt war: Galliano. Die Frage, wie der schmeckt, konnte letztendlich durch dessen Verkostung höchstbekömmlich beantwortet werden. Auf die Frage, wo man ihn individuell beziehen könne, kommt die Antwort: "Im Internet".
Nach der Aufführung wurde auch eine solche Frage gestellt: Wo es denn diese vielen Gummipuppen und -figuren und -gerätschaften zu finden gäbe, die auf der Bühne zu sehen waren. Und auch hier war die Antwort: "Im Internet".
Als es im Verlauf des Stückes immer wieder um das Thema der Sexualität und der Pornografie geht, wird auch immer wieder diese Quelle zitiert, die einen prägenden Einfluss auf das eigene Vor-Erleben hat: Das Internet...
Wir werden hier in diesem "PS"-Vermerk keine neue Baustelle mehr aufmachen können, aber das sei hier doch festgehalten: Was die Aufführung in diesem Beziehungsgeflecht zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Familie und soziokultureller Kompetenz schmerzlich vermissen lässt, das ist der Versuch, transparent oder auch nur in Ansätzen erlebbar zu machen, auf welchem Wege dieses "Internet" als neue Bezugsgrösse der eigenen Sozialisation in den Figuren der hier Agierenden Gestalt angenommen hat.
Ja, die Könige sind tot, aber ihre Reiche leben fort. Nicht nur in "Game of Thrones", sondern in all den ebenso attraktiven wie verlogenen Gratisversprechen einer Google- oder einer facebook-Welt.
Diese Revolution, die sich derzeit im Stillen vollzieht, ist alles andere als eine nur "eingebildete Revolution". Allerdings sind deren Folgen für viele immer noch in der Tat "unvorstellbar". Und gerade deshalb sollte sich das Theater dieser Herausforderung endlich stellen, über solche anscheinend unvorstellbaren Folgen nicht nur nachzudenken, sondern diese uns schon hier und heute vor Augen zu führen.
Ein gelungener Internetauftritt wie der oben schon zitierte der Theaterakademie ist dazu eine wichtige Voraussetzung. Jetzt aber geht es darum, wie "Das Theater" und die "Virtuelle Realität" in den digitalen Welten auf deren jeweilige BesucherInnen/NutzerInnen wirkt.
Ein weiterer Anfang wurde dazu heute - einmal mehr - versucht. Weiter so! Und "scheitern, wieder scheitern, besser scheitern".