No Show: "Industrie 4.0" zur Diskussion gestellt

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 11. November 2015 um 12 Uhr 06 Minutenzum Post-Scriptum

 

Da eine Teilnahme an der nachfolgend benannten Veranstaltung nicht möglich sein wird, werden an dieser Stelle zumindest die Positonen zur Kenntnis gebacht, die im Verlauf derselben zur Disposition und zur Diskussion stehen werden.

Lieber Herr Siegert,

Industrie 4.0 steht nicht nur für den technologischen Wandel in Fabriken, sondern auch für die rasante Veränderung gesamter Marktstrukturen. Im Mittelpunkt: Die Entstehung digitaler Plattformen, die in Medien, Politik und Wirtschaft heftig diskutiert werden. Digitale Plattformen polarisieren: Sie werden entweder als monopolartige Zerstörer etablierter Branchen kritisiert oder als neuartige Innovations- und Wachstumstreiber überschwänglich gelobt.

Im Rahmen einer abendlichen Diskussion und Buchvorstellung möchten wir gemeinsam die tatsächlichen Marktveränderungen in Deutschlands Industriebranchen in den Blick nehmen und die Herausforderungen für Politik und Unternehmen diskutieren. Wir freuen uns, Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, für einen Impuls zu begrüßen. Grundlage der anschließenden Diskussion bilden die Thesen eines neu erschienenen Kompendiums zur Plattformbildung in deutschen Industriemärkten.

Wie digitale Plattformen die deutsche Wirtschaft verändern
Donnerstag, 12. November 2015, 18:30 Uhr
stiftung neue verantwortung, Berliner Freiheit 2 (Beisheim Center), 10785 Berlin
[...]
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ben Scott

Geschäftsführer der stiftung neue verantwortung

Kompendium "Industrie 4.0"

4 Thesen zum Thema Wirtschaft:

These 1: Digitale Plattformen verändern die Struktur der Wirtschaft grundlegend. Deutsche Unternehmen müssen auf diese Herausforderung eine strategische Antwort finden.

Das Potenzial zusätzlicher Wertschöpfung durch die digitale Transformation wird auf 425 Milliarden Euro bis zum Jahr 2025 geschätzt. Die Herausforderung besteht darin, dass die digitale Transformation nicht nur Produkte „smarter“ macht, sondern Märkte strukturell verändert. Die neuen Marktstrukturen werden maßgeblich durch digitale Plattformen bestimmt. Plattformen sind der Ort, an dem auf Grundlage von Daten Dienste angeboten werden und Wertschöpfung neu verteilt wird.

Für den Standort bedeutet das: Wollen sich deutsche Unternehmen weiterhin als „Systemkopf“ industrieller Wertschöpfung etablieren, müssen sie eine strategische Antwort auf diese Veränderung finden. Dies kann bedeuten, dass man Plattformen selbst bzw. im Konsortium aufbaut und betreibt. Dies kann aber auch bedeuten, dass man Plattformen Dritter unterstützt, die aufgrund ihrer Offenheit dem eigenen Geschäftsmodell besonders förderlich sind.

These 2: Die Plattformisierung führt zu einem „Innovator’s Dilemma“ und ist deswegen ein Führungsthema.

Erfolgreiche Plattformen entstehen nicht durch Zufälle, sondern durch strategisches Management. Da Plattformstrategien etablierte Geschäftsmodelle – auch im eigenen Unternehmen – in Frage stellen, haben sie viele Gegner („Innovator’s Dilemma“). Hier hilft nur ein Eingreifen der Unternehmensführung. Die gerade stattfindende Plattformisierung ist eine echte Management-Herausforderung. Drei Fragen sind essentiell:

1. Wie wird der Markt, in dem ich tätig bin, durch die Plattformisierung verändert?
2. Will ich die Plattformen selber bauen? Wenn ja: Welche Partner brauche ich? Wie baue ich ein „Ökosystem“ für die Plattform auf?
3. Wenn nein: Wie sorge ich dafür, dass die Plattformen, die im Markt entstehen, meinen Interessen dienen?

Man könnte einen auf diese Fragen ausgerichteten Management-Stil als „adaptiv“ bezeichnen. Es geht also nicht darum, aus jedem Unternehmen ein IT-Forschungsinstitut zu machen – es geht um die schnelle Anpassung an neue Rahmenbedingungen. Die Verlierer der digitalen Transformation werden solche Unternehmen sein, die aufgrund einer Fokussierung auf das existierende Geschäftsmodell zu langsam auf das Neue durch Adaption reagieren.

These 3: Die Plattformisierung ist kein uniformer Prozess, sondern wird in den jeweiligen Branchen zu sehr unterschiedlichen Konstellationen führen.

Eines der großen Missverständnisse der aktuellen Debatte ist die Gleichsetzung von Plattformisierung mit Uniformisierung. Die Branchenanalysen in Kapitel 2 zeigen auf, dass die Plattformisierung ein Megatrend in vielen Sektoren der Wirtschaft sind. Dieser Prozess verläuft allerdings je nach Branche sehr unterschiedlich und führt zur Etablierung sehr unterschiedlicher Plattformen. Kernunterscheidungsmerkmale sind unter anderem:

 Offenheit vs. Geschlossenheit: Die Machtverteilung zwischen Plattformkern und -peripherie kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein.
 Plattform-Entrepreneure vs. Plattform-Konsortien: Während einige Märkte durch einzelne Unternehmen „plattformisiert“ werden, werden andere stärker durch Plattform-Konsortien geprägt.
 Evolution vs. Revolution: Einige digitale Plattformen entwickeln sich aus schon existierenden Lieferketten-Plattformen, andere Plattformen werden neu gegründet.

These 4: Je näher am Konsumenten und je weniger Hardware-dominiert ein Markt ist, desto vehementer der Plattformisierungsprozess.

Das Wort „disruptiv“ wird zurzeit etwas zu leichtfertig verwendet. Nicht jeder Digitalisierungs- und nicht jeder Plattformisierungsprozess verläuft disruptiv im Sinne einer vollständigen Verdrängung existierender Produkte. Die Plattformisierung lässt sich in vielen Fällen eher als ein Prozess der Umschichtung verstehen: Wertschöpfung wird durch neue Geschäftsmodelle – zum Teil dramatisch – neu verteilt. Gibt es in der Vergangenheit ein Plattformisierungsmuster, anhand dessen das disruptive Potenzial abgeschätzt werden kann?

 Geschwindigkeit der Plattformisierung: Zumindest kann man in Anlehnung an die These „Software is eating the World“ feststellen, dass Plattformen zwar gefräßig sind, manche Märkte aber deutlich schneller verdaut werden als andere: Besonders anfällig sind demnach Märkte im Endkundenbereich. Das „Consumer Internet“ ist bereits heute weitgehend plattformisiert. B2B-Märkte brauchen deutlich länger – die „Industrie 4.0“-Debatte, die in Deutschland 2009 startete, spiegelt diesen Prozess wider.
 Marktextern vs. marktintern: Hardware matters! Ein zweiter Faktor, der nicht so sehr die Geschwindigkeit der Plattformisierung, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit eines neu in den Markt eintretenden „Plattform-Entrepreneurs“ bestimmt, ist die Bedeutung von „Hard Assets“. Hardware spielt nach wie vor in vielen Märkten eine zentrale Rolle: Landwirtschaftsmaschinen, Turbinen, Flugzeuge, Autos. Die Markteintrittsbarrieren in diese Märkte sind aufgrund der Komplexität der Produkte hoch – dieser Tatsache können sich auch Plattformmärkte nicht gänzlich entziehen.

4 Thesen zum Thema Staat:

These 1: Der Staat ist kein Plattform-Akteur. Er sollte sich auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen und die Gestaltung intelligenter Infrastrukturen konzentrieren. Industrie 4.0 erfordert keine neue Industriepolitik, sondern eine angepasste Ordnungspolitik.

Die Plattformisierung hat unser wirtschaftspolitisches Koordinatensystem durcheinander gebracht. „Industrie 4.0“ muss des Öfteren als Rechtfertigung für eine „neue Industriepolitik“ herhalten. Wir halten dies für falsch. Die Plattformisierung ist ein Megatrend, der Märkte stark verändert – sie rechtfertigt aber nicht das Abweichen vom Erfolgsmodell einer ordoliberalen Wirtschaftspolitik.

Aufbau von Plattformen ist eine hochkomplexe Management-Aufgabe, die ein vertieftes Verständnis von Märkten erfordert – wir bezweifeln, dass dieses spezifische Branchen-Knowhow in der Administration vorhanden ist. Wir warnen darüber hinaus auch vor der Vorstellung, der Staat sei ein geeigneter „Matchmaker“ zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen. Betriebswirtschaftliche Logik und standortpolitische Wünsche sind nur selten deckungsgleich.

Es gehört zu den Sonderlichkeiten der hiesigen Industrie 4.0-Debatte, dass originäre Verantwortungsbereiche des Staates in der digitalen Transformation in den Hintergrund getreten sind:

— die Förderung des Glasfaserausbaus als Grundlage für die digitale Transformation,
— die Adaption der Regulierung in Infrastrukturmärkten (Energie, Gesundheit, Verkehr, e-Government, Bildung), um digitale Innovationen zu ermöglichen,
— die Anpassung des Bildungs- und Weiterbildungssystems.

Damit ergibt sich ein Paradoxon: Industrie 4.0 bzw. die Plattformisierung von Märkten ist von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft. Öffentliche Aufmerksamkeit für die digitale Transformation ist gut und richtig. Als Paradigma der „digitalen Agenda“ der öffentlichen Hand taugt Industrie 4.0 jedoch nicht.

These 2: Industrie 4.0 entwickelt sich in internationalen Märkten. Wir brauchen keine „nationalen Plattformen“, sondern internationales Engagement deutscher Unternehmen.

Wir sehen die zurzeit stattfindende Organisation „nationaler Plattformen“, die durch Bundesministerien begleitet werden, kritisch. Während wir die Zielsetzung, die digitale Transformation zu einer Erfolgsgeschichte deutscher Unternehmen zu machen, richtig finden, halten wir den Rahmen für ungeeignet.

Aus Anwendersicht ist die Frage, aus welchem Land ein Plattformbetreiber kommt, völlig unerheblich. Hier geht es vielmehr um die in den Thesen 2 und 3 genannten Fragestellungen. Zugespitzt: Für einen deutschen Mittelständler ist es irrelevant, wer eine Plattform betreibt – viel wichtiger ist die Frage, ob ihm eine Plattform Marktzugänge verschafft und seine Wertschöpfung erhöht.

Aus Betreibersicht ist die Beeinflussung der gerade stattfindenden internationalen Standardisierungsprozesse wichtiger. Statt nationaler Plattformen brauchen wir ein Engagement deutscher Unternehmen in jenen internationalen Organisationen, in denen Plattformen definiert werden. Verkürzt gesagt: Reisetickets für deutsche Mittelständler zu Sitzungen des Industrial Internet Consortium und anderen Standardisierungsgremien dürften besser investiertes Geld sein als die Organisation nationaler Gesprächskreise.

These 3: In Deutschland entwickelt sich eine schleichende Plattformfeindlichkeit. Plattformfreundliche Rahmenbedingungen sollten eine Priorität der „Digitalen Agenda“ werden.

Plattformen sind wichtige Geschäftsmodelle, die Wertschöpfung erzeugen können. Die Entwicklung digitaler Plattformen in Endkonsumentenmärkten hat gezeigt, dass eine abwartende, zögerliche Haltung dazu führen kann, langfristig abgehängt zu werden. Deutsche Unternehmen sollten darin bestärkt werden, diesen Fehler im B2B-Umfeld möglichst zu vermeiden. Die Politik sollte Plattformisierungsprozess proaktiv mitgestalten und fördern. Diesem Ziel widersprechen jedoch zwei Trends:

 Haftungsverschärfung für Plattformbetreiber: Diese Haftungsverschärfung ist in den letzten Jahren durch richterliche Rechtsprechung getrieben worden. Hier ist politische Führung gefragt: Je stärker Plattformen für Regulierungszwecke in Anspruch genommen werden, umso unattraktiver wird der Plattform-Standort Deutschland – umso schwieriger ist es für Start-Ups, Plattformen zu etablieren. Hier wirken neue Regulierungsanforderungen de facto als Markteintrittsbarrieren.
 Netzneutralität: Ähnlich wirkt ein Aufweichen der Netzneutralität. Sie bevorteilt etablierte und hindert den Aufbau neuer digitaler Plattformen, indem sie die Kosten für den Betrieb erhöht. Eine Abschaffung der Netzneutralität würde das oft zitierte „level playing field“ unterminieren. Netzneutralität ist in diesem Sinne eine äußerst effiziente Wettbewerbspolitik, die dem Plattformstandort Deutschland helfen wird.

Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für digitale Plattformen sollte ein Schwerpunkt der Digitalen Agenda werden. Hier ist politische Führung gefragt, um die schleichende Plattformfeindlichkeit umzudrehen.

These 4: Wettbewerbs- und Verbraucherschutzrecht müssen angepasst werden, um Plattformmärkte sinnvoll zu gestalten. Die Gleichsetzung von Plattformisierung mit Monopolisierung ist falsch und führt zu falschen politischen Schlussfolgerungen.

Unser Wettbewerbs- und Verbraucherschutzrecht ist auf „Pipeline“- nicht Plattform-Märkte ausgerichtet. Hier bedarf es einer Anpassung. Plattformen können eine Konzentration von Marktmacht (im Kern der Plattform) und Hyperwettbewerb (in der Peripherie) zugleich schaffen – mit diesem Paradoxon müssen wir umgehen.

Digitale Plattformen werden gerade in der politischen Diskussion oft mit Monopolen gleichgesetzt. Wir halten dies für falsch. Obwohl unzweifelhaft starke Netzwerkeffekte existieren, deutet viel darauf hin, dass Plattformen angreifbarer sind als gemeinhin angenommen. Auch Plattformen unterliegen der Innovationsdynamik. Historisch betrachtet scheinen sich keine monopolistischen, sondern vielmehr oligopolistische Strukturen zu etablieren. Geschlossene Plattformen, die das Handeln von Plattform-Nutzern stark einschränken, rufen gemeinhin die Etablierung einer konkurrierenden, offeneren Plattform hervor. Eine ex ante-Regulierung digitaler Plattformen ist wenig vielversprechend. Es ist kaum möglich, die Entwicklungslinien der Plattformisierung und der sich daraus ergebenden Herausforderungen für Wettbewerb und Verbraucher zu antizipieren. Gute Wettbewerbs- und Verbraucherpolitik wird ex post anhand klar definierter Paradigmen gestaltet.

P.S.

HIer eine Meldung vom Stardard aus Wien, der sich seinerseits wieder auf die Agentur APA bezieht - und schreibt:

Digitalisierung: VW wirbt Apple-Experten ab

10. November 2015, 15:17 Hamburg/Wolfsburg – Volkswagen gibt der Digitalisierung nun auch im Management stärkeres Gewicht und wirbt einen Experten beim IT-Konzern Apple ab. Johann Jungwirth sei mit Wirkung zum 1. November zum Leiter des neugeschaffenen Bereichs Digitalisierungsstrategie berufen worden, teilte der Wolfsburger Autobauer am Dienstag mit. Der 42-Jährige berichte direkt an Konzernchef Matthias Müller.

Signal in Richtung Zukunft

Mit der Berufung signalisiert der durch den Abgasskandal schwer angeschlagene Konzern nach Meinung von Experten, dass er seine Zukunft nicht aus den Augen verlieren will. "Das ist erst der Beginn", sagt Stefan Bratzel vom Center of Automotive in Bergisch Gladbach. "Ein Weiteres wird sein, dass sich VW auch organisatorisch auf die neuen Wettbewerber Apple, Google und Alibaba einstellt", fügte er hinzu.

Die traditionellen Autobauer wie VW, Daimler und BMW stehen unter massivem Druck, weil sich IT-Konzerne aus den USA und China warmlaufen, um der Branche mit selbstfahrenden Wagen das fürchten zu lehren. Experten halten es für wahrscheinlich, dass zumindest Google in absehbarer Zeit ein Auto in großer Stückzahl auf den Markt bringen könnte. Auch von Apple werden Pläne für ein Elektroauto erwartet.

Vor Apple bei Mercedes-Benz

Jungwirth arbeitete seit 2014 in der Entwicklung der Mac-Computersysteme und in der Special Projects Group von Apple am Unternehmenssitz in Cupertino – mit Verantwortung unter anderem für Innovation in Technik und Design sowie in der Produktentwicklung. Davor war der Vater von zwei Kindern bei Mercedes-Benz in den USA tätig, wo er unter anderem die Entwicklung und Forschung von Roboterautos und Telematikdiensten steuerte.


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