ChariCheck III

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 1. September 2015 um 15h51minzum Post-Scriptum

 

1. Was für eine Unterschied: Auch heute beginnt die "Tagwache" kurz nach 6 Uhr in der Frühe. Aber als um 7 Uhr das Frühstück gebracht wird, gibt es die freundlichen Empfehlung: "Schlafen Sie ruhig noch weiter, Herr Siegert". Und so geschieht es auch, so dass das Aufstehen und die Nahrungsaufnahme erst um 9 Uhr beginnt. Selbst der zwischenzeitliche Aufenthalt um das Bad zu reinigen wurde fast gar nicht wahrgenommen.
Das alles war nach der Nacht zuvor eine echte Erholung. Geholfen hat dabei die Verwendung von Ohrenstöpseln und einer Augenmaske. Und, wie gesagt, die freundliche Empfehlung der Schwester.

2. 10 Uhr. Es kommt endlich zu der grossen Ansage. Anwesend sind, neben dem Patienten: der Oberarzt, der Assistenzarzt und eine dritte weibliche Kollegin, die mir nicht vorgestellt wird. Die Dritte im Bunde bleibt an der Seite stehen, der Assistenzarzt an der Seite des Oberarztes, der sich dem Patienten gegenüber an den Tisch setzt und das Gespräch mit ihm aufnimmt.
Der Fall wird nochmals wiederholt und die möglichen Eingriffe werden in ihrer Funktion und mit ihren möglichen Nebenwirkungen erläutert. Der langen Rede klarer Sinn: am Freitag wird eine Muskel-Biopsie vorgenommen. Die auch in Frage stehende Nervenbiopsie wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, nachdem die bis dahin vorliegenden Ergebnisse ausgewertet werden konnten.

3. Im Nachgang dazu wird in einem zweiten Gespräch mit dem Assistenzarzt die Erklärung unterzeichnet, die zur Zustimmung für einen solchen Eingriff notwendig ist. Er liest dankenswerter Weise die zu beantwortenden Punkte vor, trägt die Kreuzchen selber ein, und bittet, das Ganze zu unterschreiben. Ein Kopie davon wird nicht ausgehändigt. Ausgehändigt werden stattdessen alle zur Einsicht vorgehaltenen Untersuchungsberichte der Charité und eine Patientenverfügung. Ob eine solche vorläge, diese Frage kommt nicht. Aber man lernt ja im Verlauf seiner Klinikaufenthalte dazu. Und so wird dann auch diese der Erklärung als Kopie beigefügt. Es ist das erste Mal, dass das inzwischen schon im Portemonaie arg lädierte Papier hervorgeholt wird. Sei’s drum. Es liegt jetzt - als Resultat der eigenen Initiative - mit bei den Akten.

4. Der freundlich beschwichtigende Hinweis des Assistenzarztes, dass wir uns bestimmt wiedersehen würden, hilft da wenig. Nachdem mir aus der zur Zustimmung vorgelegten Erklärung vorgelesen wird, in der sogar auf theoretisch mögliche, wenn auch höchst unwahrscheinliche Todesfolgen hingewiesen wird, ist es aus Sicht des Patenten nur fair, dann auch von Seiten des Betroffenen auf der gleichen Ebene zu reagieren.
Es kann nicht sein, dass wir als Patienten die Ärzteschaft von allen möglichen Folgen ihres Tuns freistellen, dann aber nicht auf unsere Rechte und die Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung hingewiesen werden. Das klingt hart, zumal es hier nicht darum geht, irgendjemanden irgendwas zu unterstellen, aber hier geht es nicht um die individuelle Bereitschaft der einzelnen Beteiligten, sondern um das "System", das dahinter verborgen ist - und nur hin und wieder durchscheint. Und sich in seinen Auswirkungen indirekt dann doch bemerkbar macht.

5. Nachdem sich der Aufenthalt um voraussichtlich zwei Tage verlängert, drängen sich immer mehr von diesen Reflektionen auf. Und ohne jetzt sogleich in eine Due Diligence dieses ganzen Systems hier einsteigen zu wollen, ist es doch wahrlich interessant zu sehen, welche jeweiligen Handlungs- und "Spiel"-Räume durch des System vorgegeben - und welche dadurch auch freigegeben - werden.
Aber es bleibt keine Zeit, darüber jetzt längere Abhandlungen zu verfassen: Zunächst kommt nochmals der "Vampir" (gibt es auch eine weibliche Form davon?) [1] vorbei, da nochmals Blut abgenommen werden soll, um einen Antikörper "... was mit ’M’" zu bestimmen. Und dann wird auch schon das Mittag-Essen gebracht: Es ist ja auch schon 12 Uhr.

6. Fertigmachen für den Ausgang: Aufs Gelände. Denn der Zugang zum verlockenden, sonnenbestrahlten grossen Balkon vor dem Fenster, der sich an der ganzen Zimmerfront entlangzieht, ist und bleibt verschlossen. Und kann auch nicht von dem angesprochenen Personal, seien es Menschen in blauer oder auch in weisser Kleidung, geöffnet werden - wie sie übereinstimmend mit Bedauern feststellen. Dabei scheint sich um einen durchaus für die Patienten zugänglichen Bereich zu handeln, denn neben der verschlossenen Tür ist ein Hinweis angeheftet, dass man auf eben diesem Balkon das Rauchen mit Rücksicht auf die Patienten in den dahinterliegenden Räumen unterlassen solle.
Also ist ein Spaziergang über das Gelände angesagt. Ziel ist das Röntgen-Institut, wo vor zweit Tagen ein MRT angefertigt wurde [2]. Auf dem Weg zum Institut vorbei an einer Reihe von Büsten, auf denen die Köpfe von wohl besonders renommierten Medizinern befestigt sind, mit Namen, die dem Patienten nicht bekannt sind. Auffallend, dass alle diese Herren Vollbärte tragen und die Ausgestaltung ihres Antlitzes mit eben diesen jeweils wohl ein Drittel der gesamten zur "3D"-Darstellung des Kopfes ausmacht.

7. Im Institut im zweiten Stock an der Luisenstrasse, dort wo das Aquarium steht, dort wo die Anfertigung und Aushändigung der CD-Rom beantragt wird, befindet sich die Büste eines weiteren Mediziners. Ebenfalls mit Vollbart. Und dieser trägt einem Namen, der allseits bekannt ist: Röntgen, Wilhelm Conrad Röntgen. Zwischen der Büste und der Anmeldung ist an der Seitenwand ein grosses Poster gehängt, auf der Erstaunliches zu Lesen ist. [3]

[...] In Utrecht (Abb. 7) besuchte er eine technische Schule, die er jedoch ohne Abschlusszeugnis wegen eines Jugendstreiches verlassen musste, den er zwar nicht begangen hatte, dessen man ihn aber verdächtigte. Auch bei dem Versuch, dennoch das Abitur abzulegen (die Kenntnisse und das Wissen hatte sich Röntgen an einer privaten Schule erworben) hatte Röntgen Pech: Der Prüfer war ausgerechnet jener Lehrer, der seinerzeit Röntgens Abgang von der Schule bewirkt hatte.

Nach einem Jahr meldete sich Röntgen zu einer Aufnahmeprüfung an der Universität Utrecht an. Er hätte nach Bestehen dieser Prüfung sich auch ohne Abitur als Student einschreiben können. Sein Antrag wurde jedoch zu seinem Leidwesen abgelehnt.

[...] Hier findet sich eine Parallele zu einem ebenfalls sehr prominenten Wissenschaftler, nämlich Albert Einstein. Auch dieser studierte ohne Abiturprüfung in Zürich: Beide großen Physiker wurden auch ohne allgemeine Hochschulreife Nobelpreisträger!‘

Und das ist nicht das Ende von diesem Lied / Leid: Röntgen konnte seine Assistenz-Zeit an der Uni Würzburg nicht mit einer Habilitation abschliessen, da der zu deren Bewilligung das erforderliche - und angeforderten - Abi-Zeugnis nicht hatte vorlegen können. Das ist die gleiche Uni, die ihm dann anno 1879 das Ordinariat für Physik anbot (sic!). Quelle victoire!

8. Als dann das alles gelesen und die CD-Rom fertig war, wird auf dem Rückweg Station gemacht in der Cafeteria des Neubaus. In dem nur spärlich besetzten Innenraum hat eine dort sitzende Person ihren Kopf auf einen der Tische gelegt und neben ihr liegt ein Buch mit dem Titel "POWER für das Selbst"... die eigene Alternative sieht so aus: Mit einer an der Theke erworbenen Mate-Koffein-Brause und einem Eis wird draussen auf der Terrasse die Sonne genossen, die einem auf dem Umgang vor dem "eigenen" Zimmer verwehrt wurde. Allerdings müssen all die süssen Dinge verdammt schnell verzehrt werden, da der Ansturm der Wespen dazu keine Alternativen zulässt. Aber danach wird Abseits von den Tischen ein alleinstehender Stuhl gesucht und ein Moment des besonderen Wohlseins genossen. Und - um auch das ganz klar zu sagen - versucht Abstand zu nehmen von den Umständen, die dazu geführt haben, dass für einen letztendlich ambulanten Eingriff drei Tage Warte- und Beratungs-Zeit in Anspruch genommen - und dem Patienten gestohlen - wurden.

9. Es gibt schon jetzt LeserInnen, die gar nicht verstehen, warum all diese Zeit mit so viel Ruhe und Geduld hier verbracht wird und der hier schreibende Patient nicht schon längst auf die Barrikaden gestiegen sei. Ein gute, eine berechtigte Frage. Über die es gut war, in diesem guten sonnenbeschienenen Moment nochmals nachzudenken.
Und sich darüber im Klaren zu werden, dass wohl die eigene Entscheidung, Muskel- und Neven-Biopsie nicht am gleichen Tag vornehmen zu lassen, sicherlich mit auf den Verhältnissen beruht, die hier anzutreffen waren. Und dazu hätte sicherlich der - vielleicht wirklichkeitsfremde - Wunsch gehört, einmal vorab der Person begegnen zu dürfen, die letztendlich für diesen Eingriff die Verantwortung zu tragen gehabt hätte.

10. Das allabendliche: "Gute Nacht, Freunde" richtet sich dieses Mal an die ARD. Nachdem hier im Krankenhaus aus der Sendepallette der Rundfunkanstalten der Länder Deutschlands nur "KiKa" freigeschaltet ist, gab es den Versuch, die das heute Qualifikationsspiel zur Fußball Europa League: Odds BK - Borussia Dortmund aus Skien live auf dem Rechner anzuschauen - falls das mit Hilfe der hier sehr schmalbandigen und nur zeitweise zur Verfügung stehenden Internet-Verbindung überhaupt möglich sein würde. Allein, selbst das herauszufinden, stellt sich als überflüssig heraus. Dazu zum Beweis zwei Screenshots, die mehr sagen als die 1000 Bilder, die es nun eh’ nicht zu sehen geben wird:

P.S.

Es war immer die Entscheidung, sich mit diesen Eintragungen auf jenes Ereignis zu beziehen, dass als das "Wichtigste" dieses Tages ausgewählt wurde.

Für diesen und den Folgetag ist das zweifelsfrei der Aufenthalt für eine Gesundheitsprüfung in der Berliner Charité.

Im Gegensatz zu den tagtäglich während des gesamten Urlaubs vorgenommenen Aufzeichnungen werden diese auch an dieser Stelle publiziert.

Zu privat? Nein.

Auch wenn hier die Person des Autors persönlich betroffen ist, geht es hier nicht um das persönliche "Schicksal", sondern um Eindrücke und Reflexionen, die sich im Verlauf dieses Tages festgesetzt haben und daher auch hier festgehalten werden.

Dass diese Eindrücke sicherlich auch privater, genauer gesagt, subjektiver Natur sind, ist selbstredend.

Gewählt wird die seit einem Monat begonnen, wenn auch bislang nur an zwei Tagen publizierte Form eines in jeweils 10 Punkten festgehaltenen Tages-Protokolls.

Anmerkungen

[1Ein Leser schlägt nach der Lektüre dieser Zeilen "Vampirette" vor :-)

[2Auf die eigene Aussage an den Assistenzarzt, mir dort ein Kopie der Untersuchungen auf einer CD-Rom anfertigen und aushändigen zu lassen. gibt dieser den Hinweis, auf jeden Fall den Personalausweis mitzunehmen, um sich eindeutig ausweisen zu können. Den Hinweis, dass es überhaupt die Möglichkeit gäbe, so eine Kopie in die Hand zu bekommen, war von ihm nicht gekommen.

[3Ja, man muss eigentlich "dankbar" sein, dass die Anfertigung der CD-Rom einige Zeit in Anspruch nimmt, sonst wäre es einem gar nicht in den Sinn gekommen, nachzulesen, was dort geschrieben steht.


10115 Zeichen