Es ist dunkel und kalt. Der Morgen hat noch nicht begonnen. Das elektrische Licht und das fliessende Wasser – welch Luxus – wecken die Illusion, schon wach zu sein.
Eben war es noch kurz nach vier Uhr. Jetzt ist es schon gleich fünf. Warum? Keine Zeit für’s Nachdenken. Die Sachen sind gepackt, der Zettel zum Abschied wird geschrieben. Und dann in aller Eile hinaus auf die Strasse.
Es ist leer draussen. Die Signalzeichen der Ampel farbwechseln nur für sich selbst. Der Fahrtwind saust um die Ohren. Aber der Helm sitzt fest und der Weg kurz wie nie.
Zwischenstation im Büro. Nochmals packen, prüfen und dann pfeilgerade ab in Richtung Bahnstation. Von weitem schon ist die anfahrende Bahn zu sehen. Macht es Sinn den Wettlauf mit ihr aufzunehmen?
Selbst die samtenen Samsonite-Rollen kommen ins Klappern beim Rennen bis zur Rolltreppe. Der Versuch, auch auf dieser noch schneller zu sein als diese, misslingt schmerzlich. Es kommt zum Sturz. Auf den Treppen liegend und sich von diesen wieder aufrappelnd geht die Fahrt weiter in Richtung Perron.
Schon ist das Signalzeichen für die Abfahrt der Bahn zu hören. Noch ein letzter Versuch mit dem Koffer in der Hand. Doch die Türen verschliessen sich vor Deinem keuchenden Atem. Noch steht der Zug. Und Du mit zerschundenen Beinen vor ihm. Aber eine Mitfahrt ist in diesem Zug nicht mehr möglich.
Ausatmen. Die Kälte spüren. Den Aufsichtsbeamten – gut, dass es ihn noch gibt – aufsuchen: Der nachfolgende Regionalzug würde ausfallen. Und die nachfolgende S-Bahn? Würde sie pünktlich ankommen verblieben nicht einmal fünf Minuten Umsteigezeit.
Warten. Auf metallgitternen Sitzen. Dort: Ein rotweissgestreifter Strumpf. Mit Karte mit einem Jahresabo darin. Der Stoff ist nass, als er samt den Papieren aufgenommen wird. Die Wartezeit gibt Zeit, sich darum zu kümmern.
Vor nicht allzu langer Zeit war an fast gleicher Stelle der eigene Rucksack zurückgelassen worden – war von einem Zugführer entdeckt, vom Aussichtspersonal sichergestellt, untersucht und Dank ihres Anrufs auch als Wiedergefunden gemeldet worden.
Also dort nochmals geklingelt. Dieses Mal geht sogar die Tür auf, die die Stimme, die zuvor geantwortet hatte, bekommt eine wahre Gestalt. Es erfolgt eine kurze Übergabe, ein kurzer Dank und Gruss und der Weg führt zurück an die metallenen Sitzgelegenheiten.
Es wird noch kälter, weil windig. Die Wartezeit wird mit der Erprobung neuer Funktionen an einem Smartphone kompensiert. Die nächste S-Bahn kommt. Pünktlich. Ohne Hast ist nun der Einstieg möglich.
Aber auf der Fahrt bleibt der Zug mehrmals an mehreren Bahnhöfen stehen, auch nachdem er alle Personen hat aus- und einsteigen lassen. Nerven. Es bedarf guter Nerven um diese Spannung auszuhalten.
Endlich am Umsteigepunkt angekommen, wird aus dem Lautsprecher schon das Eintreffen des Anschlusszuges angesagt. Den Lift nehmen oder die Treppe? Welches ist das richtige Gleis für den jetzt eintreffenden Zug? Warum ist ausgerechnet heute die elektronische Anzeige in der Bahnhofshalle ausgefallen?
Dann treffen der Zug und der Reisende zum gleichen Zeitpunkt auf dem Bahnsteig ein. Auch jetzt ist nicht genug Zeit, den richtigen Wagon für den vorreservierten Platz aufzusuchen. Aber reicht die Zeit noch, in dessen Richtung auf den richtigen Wagon auf dem Perron voranzuschreiten? Schon klirrt mit scharfem Klang die Pfeife des Schaffners. Jetzt aber rein in die nächste Türe, solange die noch offen ist.
Der lange Marsch durch den Zug beginnt, fast durch den ganzen Zug. Da nur Wenige zugestiegen sind, ist der Weg nicht beschwerlich, aber lang. So viele Gesichter, an denen der Blick vorbeistreift. Schlafende, lesende, redende, schreibende, AV-konsumierende Menschen – einer neben dem anderen. Eng an eng. Und dann, mittendrin, eine total freier Tisch mit vier Sitzplätzen.
Als der Weg von zwei Catering-Carts verstellt wird ist offensichtlich das vordere Ende des Zuges erreicht. Jetzt nur noch einmal die Kehrtwende und die richtige Sitzplatznummer suchen. Da der gegenüberliegende Platz besetzt ist, wird stattdessen ein nicht-reservierter auf der anderen Seite des Ganges ausgewählt.
Am Sitzplatz angekommen. Währens der Zug schon längst in Fahrt gekommen ist, gibt es erstmals einen Moment um zur Ruhe zu kommen. Jetzt wird der Schmerz der Sturzes auf der Rolltreppe erst richtig spürbar. Die Schürfwunde auf der Hand wird sichtbar. Und das - selbst finanzierte - Privileg der ersten Klasse wird doppelt gut spürbar.
In der gleichen Reihe sitzen jetzt drei Männer nebeneinander. Alle drei haben ihre Rechner aufgeklappt und schreiben. Der Jüngste von uns Dreien hat damit nicht einmal innegehalten, als das Essen serviert wurde. Seine Pause bestand allenfalls darin, dass er einen Moment lang die WELT KOMPAKT auf die Tasten seines ThinkPads – wohl schon die VRC- und nicht mehr die US-Version – gelegt hatte und vom Papier, gleichwohl kauend, weitere Textzeilen der gedruckten Art verschlang.
Das angerollte Frühstück allerdings hat mit dem Niveau der ersten Klasse nichts zu tun. Zwei flappige Brötchen, zwei Scheiben undefinierbaren Aufschnitts unter dem sich eine Scheibe Käse verbarg. Ein Päckchen Konfitüre; die vorn auf der Abdeckfolie abgebildeten Himmbeeren haben aber auch nichts als eine Illusion mit dem trügerischen Abbilds gemein. Ein ebenfalls undefinierbarer Joghurt und ein ganz und gar verfrorenes Stück Butter, zu hart, um überhaupt aufgestrichen zu werden.
So bleibt Zeit zu warten, den Rechner einen Moment hintan zustellen und draussen erstmals den vorbeiziehenden Horizontstreifen des anbrechenden Tages wahrzunehmen. Der Morgen dämmert ins Abteil. Das Neonlicht an den Fenstern tut nur noch während der Tunneldurchfahrten Sinn machen, bleibt aber aktiviert. Bis an das Ende der Fahrt.
Ankunft am Bahnhof mit ¼ Stunde Verspätung. Am Info-Point gibt es keine Städteverbindungsbücher mehr. Es gibt keine Fahrpläne mehr zum mitnehmen und die Zettel mit den Angaben zu den einzelnen Städten – auch zu den grossen – sind mehr oder weniger vergriffen. Die kleinen Büchlein mit den Fahrplänen ab und nach Frankfurt am Main sollen jetzt einen Euro kosten – aber sind ebenfalls nicht mehr zu bekommen. Auch nicht in der DB-Lounge.
Anstatt mit einem Plakat wird der Reisende mit einer Nachricht auf dem Boden des Bahnsteigs begrüsst: Weil das billiger ist, oder weil die Werber glauben, dass wie eher geneigten denn erhobenen Hauptes zur Buchmesse weiterfahren werden?!