Die Digitalisierung des Denkens

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 15. Januar 2015 um 23 Uhr 27 Minuten

 

Eigentlich war für diesen Text die folgende Überschrift vorgesehen:

Die Entelektrifizierung des Denkens.

Aber dann, als der Rechner schliesslich hochgefahren und das entsprechende Feld mit den richtigen Einstellungen in Stellung gebracht worden war, war der Eintrag der Überschrift eigentlich schon nicht mehr überlegt, sondern erfolgte in einer Art automatisierten Schreibroutine, die dann dieses Überschrift als Ergebnis hatte.

In der Zeit, die vergeht, bevor man seinen ersten Satz - oder in diesem Fall die Überschrift - aufschreiben kann, ist eine für das hier zu Beschreibende Thema eine ganz entscheidende. Es ist Wartezeit, die es braucht, um die elektronischen Gerätschaften soweit in Betrieb genommen zu haben, dass sie in der Lage sind, die ersten eingetippten Buchstaben in ihrem Innersten einzuspielen und abzulegen.

Anders als vor einem Stück Papier, oder vor einer Schreibmaschine in der man dieses Stück Papier zuvor eingezogen hat, bedarf es bei diesem Prozess einer Wartezeit, auf die man keinen Einfluss hat.

Gewiss, es ist sicherlich auch schon ein Unterschied gewesen, ob man den ersten Schriftzug auf einem Blatt Papier beginnt, oder ob man dieses Blatt zunächst auf die Walze einer Maschine hat einspannen müssen. Auch dieser Vorgang hat bereits mit einer gewissen Verzögerung des Schreibprozesses zu tun. Auch hier gab es bereits ein technisches Ritual ganz eigener Art, dass nun dem eigentlichen Schreiben vorgelagert wurde.

Aber die jeweilige Verzögerung, die vor dem eigentlichen Akt des Schreibens eintrat, war von dem eigenen Handeln - oder auch Zögern - bestimmt. Es war schon früher alles andere als einfach, einfach mal so anfangen zu können mit dem Schreiben. Oft war selbst das Nachfüllen des Füllhaltes ein geeigneter Moment, um sich selber noch von der Aufforderung zum Vollzug des ersten Schreibmomentes befreien zu können. Oder das Abtupfen der Schreibtypen mit Knetmasse, um diese von den Tintenspuren der Farbbänder zu befreien.

Wenn aber heute, wie für diesen Text, dieses elektronische Schreibgerät in Betrieb gesetzt wird, dann ist bereits eine gewisse Wartezeit dem Prozess des Mit-dem-Schreiben-beginnen-Könnens inhärent. Und in dieser Zeit passieren "Dinge", die oft zur Folge haben, dass dann die erste tatsächlich eingetippte Zeile nicht mehr jener Text ist, den man sich zuvor in den Kopf gesetzt hatte.

Schreibe, was Du denkst, damit zu denkst, wenn Du schreibst.

Diese wunderbare Wendung galt schon immer. Obwohl sich mit der Mechanisierung des Schreibvorgangs bereits eine grosse Veränderung eingestellt und zu einer wesentlichen Beschleunigung des Schreibvorganges geführt hat. Aber jetzt ist es so - die Fertigkeit zum Verfertigen der Texte mit über die Tasten fliegenden, ja diese fast nur noch streichelnden zehn Fingern vorausgesetzt - dass das Denken in einer ganz anderen Geschwindigkeit dem Schreiben zugeeignet ist.

Früher, so erscheint es im Rückblick auf die analogen Zeit, wurde ein Satz vor dem Aufschreiben, vor dem in die Maschine setzen, soweit gedanklich verfertigt, dass der Prozess der Umsetzung dieses Satze auf einem Stück Papier weitestgehend nur noch ein technischer Vorgang war, der eigentliche den weiteren Denkprozess eher hinderte als diesen förderte.

Heute, am Rechner, ist es immer öfters zu beobachten, dass Schreiben und Denken in einer viel engeren Beziehung zueinander stehen, das eine mit dem anderen verknüpft enger verknüpft zu sein scheint.

Aufgefallen ist dieser Zusammenhang nicht so sehr beim Schreiben selber, als beim Denken. Du liegst morgens im Bett, willst den Menschen neben Dir weder durch eine eigene Bewegung oder gar das eigene Aufstehen wecken - und so beginnst Du zu denken, oder zumindest die Gedanken einfach nur herumschweifen zu lassen. Entweder, es kommt dabei eh’ nichts Gescheites heraus, oder es gelingt nicht wirklich, das Gedachte vernünftig zu strukturieren und es so im Kopf zu behalten, das es später aus diesem heraus zu Papier gebracht werden könnte.

Man denkt - übertrieben gesagt - nicht mehr für sich selbst, sondern für die Maschine, die einem dann nach dem Ende des Schreibprozesse vorführt, was man sich eigentlich gedacht hat.

Vielleicht ist das zu krass formuliert, aber es macht doch auf eine geradezu erschreckende Weise deutlich, wie sehr sich der Prozess der gedanklichen und verschriftlichten Selbst-Verständigung verändert hat. Zumindest im eigenen Fall.

Vielleicht kann man das Ganze und das ganz ohne Häme so formulieren und sagen, "Du hast Dir schon früher nicht das Erdachte merken, also nicht einmal richtig konsequtiv und strukturiert denken können; sei doch froh darüber, dass Dir zumindest jetzt mit den neuen Mitteln eine Hilfsmittel an die Hand gegeben wurde, um mit diesem Manko besser fertig werden können."

So gesehen, mag das Ganze ja noch tröstlich klingen, aber ist es wirklich eine Trost zu wissen, dass wir inzwischen mehr und mehr dazu übergegangen sind, dass Denken verlernt zu haben um nur noch das aufschreiben zu wollen, was gerade ist - wie mir gerade ist?

Nein, an diesem Punkt beginnt keine Polemik gegen die Welt des Instant Messaging, gegen Twitter, Flutter und Co. - hier sollte nur beschreiben werden, was einem so alles durch den Kopf gehen kann, während der Rechner dabei ist, die Basiskonfiguration zu installieren, das Betriebssystem zu starten, die grafische Oberfläche zu installieren, die wichtigsten Programme darin einzubetten, das Anti-Viren-Programm zu aktualisieren und schliesslich das Schreibprogramm aufzurufen... und wieso beim nach dem Ablauf dieses Prozesses dazu kommen kann, das man in der ersten Zeile nicht mehr von der Entelektrifizierung des Denkens spricht, sondern von seiner Digitalisierung.


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