Als in unserer Republik die sogenannten Notstandsgesetze verkündet werden sollten [1] – im Bundestag wurden sie durch die erste grosse Koalition am 30. Mai 1968 verabschiedet – stand die halbe Republik Kopf. [2] Jeder, ob er es nun wollte oder nicht, hatte aufgrund der heftigen und öffentlichen Diskussionen und Reaktionen davon Wind bekommen.
Heute ist der 12. November 2008: Auf der Seite mit den aktuellen Themen des Deutschen Bundestages ist u.a. zu lesen:
BKA-Gesetz
Kurz nach 17 Uhr stimmt das Plenum in namentlicher Abstimmung über die von CDU/CSU und SPD (16/9588) sowie von der Bundesregierung ( 16/10121) eingebrachten gleichlautenden Gesetzentwürfe zur "Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt" ab. Dazu hat der Innenausschuss eine Beschlussempfehlung vorgelegt (16/10822). Mit dem Gesetz soll das Bundeskriminalamt (BKA) neue Befugnisse erhalten, zum Beispiel zur polizeilichen Rasterfahndung, zur Telefonüberwachung oder zur optischen und akustischen Überwachung von Wohnungen. [3]
Und die an diesem Tag anstehenden Entscheidungen über das BKA-Gesetz finden kaum noch jene breite öffentliche Beachtung, die auch an diesem Tag angemessen, ja not-wendig (gewesen) wäre.
Dass es seit jenen Tagen im Mai des Jahres 1968 eine kontinuierliche Weiterentwicklung in der Gesetzgebung gegeben hat und das heutige Datum mit dieser in einem deutlichen Zusammenhang steht, das kann in der Sammlung des BWL_Boten deutlich und detailliert nachvollzogen werden.
Die entscheidende neue „Qualität“ dieser jetzt zur Entscheidung anstehenden Regelwerke ist es, dass der Eingriff in die Arbeits- und Lebenswelt eines jeden Bürgers auch Online, ohne dessen Wissen und Zustimmung und - in ausdrücklich festgelegten Fällen - auch ohne vorherige Zustimmung eines Richters erfolgen kann.
Der Moderne Staat, wie er in Berlin so gerne und stolz zur Ausstellung gebracht wird, dokumentiert damit, dass das Sistieren von Computern – wie gerade jetzt wieder geschehen [4] – schon alsbald eine vom technischen Fortschritt überholte Methode des Ausforschens - auch von Daten Anderer - sein wird. Davor sind, in Zukunft noch mehr denn je, auch Berufsgruppen wie Ärzte und Journalisten betroffen.
Und das macht betroffen.
Im Artikel 20 des Grundgesetzes heisst es:
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Die Ironie des Schicksals will es, dass die Erklärung des Deutschen Journalisten Verbandes zu diesen heute anstehenden Entscheidungen am Morgen diesese Tages auf der Webseite des Verbandes nicht nur nicht einzusehen sind, sondern dass die ganze Seite unter der Adresse http://www.djv.de/ zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Textes - gegen 8 Uhr morgens - nicht eingesehen werden konnte. [5]
Aber es gibt an vielen anderen Orten viele weitere Stellungnahmen dieser Art: von der Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) - "Der Entwurf des ’Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt’ beschneidet das Recht von Journalisten, vertraulich zu recherchieren. Grundprinzipien der Pressefreiheit, der Informantenschutz und das Redaktionsgeheimnis, sind gefährdet", so ihre Geschäftsführerin Elke Schäfter - bis hin zum Präsidenten der Bundesärztekammer Jörg Dietrich Hoppe, der in diesem Zusammenhang von einem "Angriff auf die Bürgerrechte, die ärztliche Schweigepflicht und das Patient-Arzt-Verhältnis" sprach.
Mit dem Hinweis auf die notwendige Abwehr der Gefahr des internationalen Terrorismus werden nunmehr dem BKA weitgehende Befugnisse eingeräumt werden: von der präventive Telefonüberwachung bis hin zur Onlinedurchsuchung.
Interessant dazu die Stellungnahme des NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP) im Kölner Stadt-Anzeiger vom 9. November 2008 [6]. Seiner Ansicht nach ist die Ausweitung der Präventivbefugnisse für das Bundeskriminalamt mit dem Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz für nicht vereinbar.
Geteiltes Leid, so heisst es, sei "halbes Leid". Zum eigenen Leidwesen ausspionierte Daten dagegen sind "doppeltes Leid". Der Wunsch, sich ihrer zu bemächtigen sei legitim, wenn es darum gehe, dem Unrecht zu Leibe zu rücken - so heisst es. Aber ist es auch legitim unter diesem Vorwand jenen potenziellen Rechtsbeugungen Vorschub zu leisten, die 40 Jahre nach den Notstandsgesetzen nicht nur in der realen Welt, sondern auch im virtuellen Datenraum und seiner Vernetzung angekommen sind?
Oder ist das Ganze als ein Faustpfand der "klammheimlichen Freude" Jener zu sehen, die bisher als "Nonliner" immer als die Benachteiligten dargestellt worden waren?
Nachtrag vom 24. November 2008:
Am Vortag zur Abstimmung über das "BKA-Gesetz" im Bundesrat, also am 27. November 2008, wird es auf Einladung des Deutschen Anwaltvereins in Zusammenarbeit mit dem Hartmannbund und dem Deutschen Journalisten-Verband eine Einhörung zum Thema
„Die Gefährdung der Privatsphäre
Schutz der Vertraulichkeit im Gespräch mit Anwälten, Ärzten, Geistlichen und
Journalisten im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat“
im Maritim pro Arte - Hotel in Berlin geben.
Befragt werden sollen - ab 16.30 Uhr:
– Wolfgang Bosbach (CDU)
– Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD)
– Jerzy Montag (Grüne)
– Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
– Wolfgang Neskovic (Die Linke)
HIER kann das ganztägige Programm als PDF-File eingesehen werden.