I.
An diesem Abend hat es einen Theaterbesuch der ganz besonderen Art geben: es ging um die Aufführung des eigentlich so "gut" wie unspielbaren Stückes "Les Paravents" von Jean Genet im Haus der Berliner Festspiele in der Regie von Frédéric Fisbach [1] zu sehen. [2]
Wir haben haben ja schon an anderer Stelle uns sowohl auf Heinrich von Kleist und seinen Aufsatz über das Marionettentheater [3] bezogen [4] als auch auf frühere Präsentationen von Bunraku in Berlin [5]
Jetzt gab es diese Koproduktion von Le Quartz – Scène Nationale de Brest, Ensemble Atopique, Studio-théâtre de Vitry, Le Théâtre National de la Colline, Setagaya Public Theatre Tokio und dem Marionettentheater Youkiza in Berlin zu erleben.
II.
Dabei ist zu Beginn der Veranstaltung alles unverständlich. Die Sprache, der Gestus der Auftritte, die Symbolik von sich im Raum bewegenden Gegenständen. Und wenn man sich nicht zuvor den Handlungsverlauf im Programmheft hat ansehen können, wird einem kaum klar worum all des geht und was das Ganze soll.
Also bezieht man sich auf die Bilder bekannter Theateraufführungen, von Mutter Courage
über Hamlet
bis zu Peer Gynt
und es fällt vordergründig nicht schwer, sich auf diesem Wege Brücken zu bauen um dennoch einen Zugang zu dem dort auf der Bühne vorgeturnten zu erhalten. Dass dann das Ganze auch noch über Mikroport übertragen wird und dann auch noch Puppenspieler mit ihren Figuren auftauchen, macht das Alles noch verwirrender. Ein riesen Stück für letztendlich doch nur fünf Stimmen, drei Schauspielern und zwei Rezitatoren, die ihre Wortgewalt und Sprech-Spiel-Kunst vielen Figuren gleichzeitig zu verleihen in der Lage waren.
III.
Wer sich all dieses Fremde auf sich einwirken lässt und den Mut hat, auch nach der Pause zu bleiben und also von abends um 7 Uhr bis kurz vor Mitternacht im Theater zu bleiben, wer sich also dieser Zu-Mutung stellt, hat die Chance, nicht nur eine Sprache, sondern zumal eine Welt zu entdecken, die uns Deutschen an bestimmten Punkte sehr nahe zu kommen scheint - wenn es um die Militarismus geht - und doch sehr fern bleibt, wenn es um das Ende des Kolonialismus in Frankreich geht.
Das ebenso verstörende wie aufregende dieses Abends ist nicht nur die aussergewöhliche Qualtität der auf der Bühne versammelten Spielleute - dazu werden sich sicher andere qualifiziertere Personen an anderer Stelle geäussert haben [6] - sondern ist der Umstand, dass ein historischer Sachverhalt erzählt wird als eine persönlicher und dass durch diese Personen die Geschichte wieder in den Vordergrund rückt, weíl sie sie mit-machen.
Aus den meisten dieser Personen werden "personages", Repräsentanten von Rollen- und Handlungsträgern zu Zeiten der franzöischen Kolonialisierung und Besatzung. Und das Ungeheuerliche ihres Tuns als auch dessen, was kollektiv getan wurde, wird dadurch sinnbildlich erfahrbar, weil gar nicht erst versucht wird, diese Erfahrung als solche zu vermitteln, sondern vielmehr die daraus erwachsenen Bilder des Horrors und der Absurdität in einer im Theater wirksamen Kommunikation vermitteln zu können.
Die Begegnung mit dem französichen Regime wird möglich, ohne all die Regimenter zu zeigen sondern ebenso bewusst wie nachdrücklich Klischees - in Sinne von negativen Vor-Bildern.
IV.
Das eigentliche Wunder aber ist der Umstand, dass das "Unmögliche" und doch von so vielen als ebenso unmöglich wie wahrhaftig Erlebte in diesen Jahren auf der Bühne wieder zum Vorschein kommen kann, weil ganz bewusst darauf verzichtet wird, Geschichte zu inszenieren sondern diese in Geschichten, in Episoden zu komprimieren.
Diese Komprimierung wird man allen bekannten Mitteln udn Möglichkeiten der Theaterkunst vorangetrieben - und schliesslich dadurch überhöht - oder auf die Spitze gestellt - indem man den Schauspieler durch eine Marionette ersetzt.
Nein: und das ist das Geheimnis, eigentlich nicht ersetzt, sodern sein Spiel damit in das Reich der Jenseits als ein Authentisches erweitert. Aus dem oft nur oberflächlichen Spruch, sein Spiel sei gerade zu "göttlich" gewesen, wird eine eine mit den Mitteln des Theaters gewählte eindrückliche Sprache, die sich solcher Floskeln entledigt, auf den Punkt kommt und es sich leistet, den Schauspieler durch jenen Vorhang schreiten zu lassen, der die hiesige Welt von der des Göttlichen trennt.
V.
Dadurch geschieht etwas im Grunde sehr einfaches - und eben dadurch aufregendens. Wir können erleben, was wir nicht zu erleben wagen: den Weg ins Jenseits als einen Weg zurück auf die Bühne, auf der wir uns und all jene, die uns erlebt haben, wieder erleben können. In Genets Welt der Toten sind wir uns nicht fremd, vielmehr erscheint es mehr als als nur "befremdlich" selbst jenen Menschen unvoreingenommen im Jenseist begegnen zu können, die man im Diesseits getötet hatte oder von denen man getötet wurde.
Es ist wie heute im Second Life: man kann fliegen und dennoch ist diese Möglichkeit keine Flucht in eine Wolkenkuckuksheim sondern die Verpflichtung, etwas daraus zu machen. Während unsere Avatare nicht zu mehr taugen, als die Illusion einer anderen Identität in einer eigenständigen Welt zu erwecken, geht Genet einen anderen, unendlich radikaleren Weg. Er lässt uns teilhaben an diesem Stück Leben zwischen Himmel und Hölle, in dem er diese Teilhabe immer auf seine von ihm geschaffene Realität bezieht, in der das Jenseits teil der all-täglichen Erfahrung ist - und dennoch nicht mit dieser vermischt wird.
Die Marionette ist mehr als nur ein Avatar. Sie ist wie ein Alter Ego von Persönlichkeiten, die als Repräsentanten der damaligen Zeit gelten und dennoch so wie hier dargestellt über diese Zeit hinaus verstanden werden können.
VI.
Auch wenn das Konzept solcher Grenzüberschreitungen seinerseits Grenzen hat - so hat es den Vorteil, auf eine viele Jahrhunderte alte Tradition zurückgreifen zu können, die sich sowohl in Europa, aber ebenso in Asien und hier insbesondere in Japan nachzeichnen lässt.
Die historischen Verhältnisse, auf die sich dieses Stück bezieht, sind eigentlich "zum verrückt werden". Aber durch den Einsatz der Marionetten gelingt es zu zeigen, dass es die Verhältnisse sind, die verrückt sind und nicht diejenigen, die sich in ihnen zu verhalten verdammt sind.
Ja, es wird sogar auf eine ebenso irr-witzige und doch offen-sichtliche Art und Weise vorgeführt, warum gerade die Militärs, die man so gerne als die "Marionetten des Herrschaftswillens und Gehorsams" brandmarkt, im Vergleich zu den anderen Personen vergleichsweise geringe Probleme in den von ihnen dominierten Verhältnissen haben. Denn Sie sind in ihrer Rolle Marionetten: Zu Lebzeiten. Und wenn sie nach ihrem - zumeist gewaltsamen Tod - als Marionetten ins Totenreich einziehen, werden sie von allem Gerangel und allen Rängen befreit.
VII.
Im Verlauf der Aufführnung findet eine nochmalige Verdichtung statt, in dem die Marionetten ihrerseits wiederum zu Repräsentanten ihrer eigenen , dem Tod geweihten Handlung und dieses Phänomen nochmals gebrochen wird, indem sie als als Filmfiguren auf einem Vorhang auftauchen: Auf eben jenem Vorhang, durch den zu gehen bedeutet, Abschied vom Leben zu nehmen. Es gibt also nicht nur das Reich der Lebenden und das der "Lebenden Toten", sondern es gibt von diesen Reichen wiederum Abbilder, die auf den Leinwänden der Bühne als Film zum Einsatz kommen.
Die Bunraku-Figuren bringen noch mehr zu Stande als "nur" Verfremdung. Ihre Existenz ist als von den Menschen gebaute gewollt und durch sie bestimmt. Während der Mensch "gottgewollt" und durch Kräfte bestimmt ist, denen er sich im Glauben verbunden oder aber auch blind ausgesetzt sieht, sind die Figuren nur und nichts anderes als ein Produkt des Menschen - um durch sie erfahren zu können, wie die "göttlichen" Gesetzte funktionieren.
Die Marionetten leben nicht ohne uns. Durch sie erleben wir, was wir in uns selber nicht in gleicher Weise nachvollziehen können: den Bauplan des Göttlichen. Denn sie tun etwas, wozu wir selber nichts dazutun können. Als Wunder und als Wunderwaffe. Wir können mit ihnen in das Reich der Toten reisen und durch ihre lebende Abbilder in Uniform in den Tod befördert werden.