WIR - sind wieder wer: „Dank“ des Internets.
I.
Am Montag, den 18. Dezember 2006 wird in Anwesenheit der Ministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Anette Schavan, im Kongressgebäude am Alexanderplatz der Ausklang des siebenten Wissenschaftsjahres, 2006 das der Informatik, gefeiert, zusammen mit "mehr als 400 Ehrengästen". [1].
Einer der Ehrengäste war Josph Weizenbaum. Aber kaum war der offizielle Teil der Veranstaltung zu Ende, die Bühne geräumt und die Elogen und Dankesworte ausgeteilt, gab es niemanden mehr, der das Gespräch mit ihm suchte oder sich von den Gastgebern weiter seiner angenommen hätte.
So reifte die Entscheidung, ihm zumindest anzubieten, "eben schnell nach Hause zu fahren", was seinerseits sofort und dankend angenommen wurde.
Im Wagen berichtet er nochmals von seiner Einlassung auf der Bühne auf die an ihn gerichtete Frage, ob die Welt „Dank“ der Informatik nun gefährlicher oder sicherer geworden sei. Er: schon die Fragestellung sei falsch: sie ginge nämlich davon aus, dass heute in der nur noch digital verstandenen Welt die Antworten nur noch mit einem "Ja" oder "Nein" möglich seien, die wirklichen Probleme aber weder von der Informatik herrühren würden, noch von dieser durch die auch noch so intelligente Anhäufung von Einsern und Nullen gelöst werden könn(t)en.
Kaum ist diese private Unterrichtung über das Versäumte - ein Teil der Veranstaltung wurde nämlich mit grossem Gewinn jenseits der Saaltüren bei einem 4-Augen-Gespräch auf dem Gang verbracht - erfolgt, schon waren wir am Wasser angekommen, an dem das Haus seiner aktuellen Heimstadt erbaut worden ist.
Warum diese Chauffeur-Tour? Eigentlich aus Scham - oder auch nur als inter-aktive Kompensation der Kritik über die Art und Weise, wie die so genannten "Ehren"-Gäste letztendlich behandelt werden.
Gewiss: Auch dieser Computerwissenschaftler ist „nur“ ein Mensch. Und in diesem Fall ein alter dazu. Und einer, mit dessen Haltungen man nicht in allen Punkten wird einverstanden sein können. Aber es kann dennoch einfach nicht angehen, dass sich ein Veranstalter nur um das Wohl der Ministerin und ihrer Vasallen schert, nicht aber um einen der wichtigsten Zeitzeugen, der nach seiner zwangsweisen Ausreise aus Nazi-Deutschland nun den Weg zurück in dieses Land gefunden hat.
II.
Nochmals ins Büro. Und dort wird die Nachtschicht zur Einstimmung mit den ARD-Tagesthemen eröffnet.
Anknüpfungspunkt ist das Zitat der Ministerin: "Mit dem heutigen IT-Gipfel in Potsdam hat Bundeskanzlerin Angela Merkel hier ein wichtiges Signal gesetzt".
Ab 22.15 uhr wird von Anne Will zu Recht nicht nur auf dieses weitere wichtige Ereignis dieses Tages hingewiesen - den ersten IT-Gipfel der neuen Bundesregierung - sondern in der Anmoderation auch und zugleich auf den Umstand hingewiesen, dass an diesem Tag das TIME MAGAZINE nicht eine Einzelperson, sondern ein Kollektiv zur einflussreichsten Person des Jahres 2006 erklärt habe. Nämlich uns, die Internet-Nutzer. Und gibt sogleich zu bedenken, was inzwischen sogar schon öffentlich zur Lage der Nation erklärt wird:
„Wir verpassen einen, ja sogar d e n Zukunftsmarkt, so die Analyse der Bundesregierung“. [2]
Das ist natürlich ein geschickter Schachzug des Herausgebers Rick Stengel [3] - zumal nun auch ein Computer erst vor kurzem gegen einen der besten Schachspieler hat gewinnen können - nicht länger eine Einzelperson, sondern erstmals ein Kollektiv von Menschen in der Qualität einer eigenständigen Persönlichkeit zu nominieren: Das Kollektiv als eine persona grata, die so erst (wieder) durch das Internet entstehen können.
Und zugleich ist dies der endgültige Bruch der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der sich nun immer nachhaltiger in seinen Auswirkungen zeigen wird. In Zukunft wird es nicht nur um den Konflikt zwischen den „Großkopfeten und "Habenichtsen“, den „Gottlosen und Sendungsbewussten“ geben, sondern auch sich immer mehr vertiefenden Graben zwischen der internetaffinen Hälfte der Bevölkerung und jenen, die sich von diesen neuen Kommunikationsmitteln abgewandt haben.
III.
Wer an diesem Abend nicht nur Tagesschau und Tagesthemen gesehen hat, sondern auch selbst in Potsdam auf dem IT-Gipfel vor Ort war, wird von einer weiteren Eingebung erfahren haben, die an diesem Tage wohl erstmals öffentlich vorgestellt wurde: eine neue „Kummer-Nummer“, den neuen Notruf 115.
In der Berliner Zeitung vom 19. Dezember schreibt Annett Otto auf der Seite 1
[...] „In Potsdam wurde gestern Zukunftsmusik gespielt: Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die IT-Branche zum ersten nationalen Gipfel geladen. Es galt, wieder einmal, über den anzustrebenden Spitzenplatz für Deutschland bei der Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien zu reden. Entsprechend motivierend trat die Kanzlerin auf: Den Computer erfunden zu haben, "das reicht uns nicht." Mit im Gepäck hatte sie die Idee - übrigens eine von 520 weiteren - für eine bundesweit einheitliche Notrufnummer. Der Vorschlag: Der Bürger soll die 115 anrufen können, wenn er Ärger mit Behörden und Ämtern hat, wenn er mit Antragsformularen nicht klarkommt oder sich über die schmutzige Bushaltestelle und die Schlaglöcher in den Straßen bei der Stadtverwaltung beschweren will. Eine riesige technisch-logistische Aufgabe, müssten doch alle Behörden von Bund, Ländern und Kommunen miteinander vernetzt werden und es müssten große Callcenter oder kleine flinke Hotlinestellen in den Behörden mit großartig geschulten Mitarbeitern entstehen.
Nun wissen wir natürlich, dass auch hier andere Länder mit anderen Sitten Pate standen für diese Idee. Die "115" ist jedem in der DDR eine vertraute Telefonadresse für medizinische Notfälle gewesen. Und in New York hat der wiedergewählte Bürgermeister mit der "311" Hotline für (fast) alle Fälle eine wichtige Basis für seine erneute erfolgreiche Kandidatur gelegt.
In unserem Zusammenhang ist diese Initiative deshalb - und gerade in dem hier hergestellten Zusammenhang - von Bedeutung, da hier nicht mehr die Rechner und Netze im Mittelpunkt stehen, sondern jene neuen durch deren Einsatz erwachsenen Nutzungsmöglichkeiten im Rahmnen dieser inzwischen aufgebauten Infra- und Wissensstrukturen, die letztendlich zu nichts anderem eingesetzt werden als zur „Schnittstellenoptimierung“ zwischen Nachfragern und Anbietern.
Die RadioEins-Korrespondentin noch am Abend dieses Tages in New York nach ihren eigenen Erfahrungen befragt, gab zu Protokoll, dass es für sie schlicht und einfach bequemer sei, sich am Telefon auf die Alltagsfragen eine zutreffende Antwort abzuholen, ohne dafür zuvor allzu lange im Internet recherchiert haben zu müssen. [4]
Sieht es derzeit also noch so aus, als ob "Das Internet" selber das Ziel und wir seine Ziel-Gruppe seien, wird in schon nicht mehr allzu ferner Zukunft "Das Internet" nur noch Mittel zum Zweck sein. Und der "heiligt" bekanntlich die Mittel. Oder?
W.S.