Wir haben einen guten Menschen verloren!
WS.
Mit seinem Namen sind großartige Inszenierungen an zahlreichen Bühnen verbunden, allen voran das Berliner Ensemble sowie Theater in Stuttgart und Frankfurt am Main. Allesamt waren vom Geist der Aufklärung und dem Glauben an eine Veränderbarkeit der Gesellschaft geprägt. Der Name Palitzsch stand für ebenso publikumswirksame wie auch geistreiche Theaterarbeit.
«Die Brechtsche Maxime, dass das Theater die Welt verändern muss, hat Peter Palitzsch nie aufgegeben», betonte das von Bertolt Brecht begründete und heute von Claus Peymann geleitete Berliner Ensemble. In seinem Nachruf trauerte es um einen «großen, wahrhaft bedeutenden Theatermann». Theater hatte in Palitzsch’ Augen den «verdammten Auftrag», nicht nur zu unterhalten. Erst in seinen letzten Lebensjahren meinte er resigniert, ein «Unvermögen des Theaters, an der Wirklichkeit teilzunehmen» feststellen zu müssen.
Palitzsch gehörte zu jenen Theatermachern, die die Fahne des politischen Aufbruchs der rebellischen 68er Jugendrevolte nicht nur auf die Bühne, sondern auch in die Chefetagen der Theater trugen. Auch er praktizierte das Mitbestimmungsmodell so lange, bis es an der Realität zerbrach. Theater war für ihn jedenfalls immer auch ein Ort der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen.
Das trug ihm nicht nur Freunde ein, wie zum Beispiel am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart, wo er die Politiker mit einer Travestie auf den damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson reizte und sich schließlich mit einer provozierenden «Hamlet»- Inszenierung verabschiedete. Dennoch machte er dieses Theater von 1967 bis 1972 zu einer der bedeutendsten Bühnen des Landes, nicht zuletzt auch durch seine von Kritikern als «zeitgemäße Aneignung der Königsdramen» gefeierten Shakespeare-Inszenierungen.
Danach sorgte Palitzsch an den Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main mit seinem Mitbestimmungsmodell für Furore, als er in einem Dreierdirektorium als Primus inter pares fungierte und als bestimmendes Entscheidungsgremium die Vollversammlung des Ensembles einsetzte. Am Main zählten Brechts «Tage der Commune» (1977), Henrik Ibsens «Baumeister Solness» (1978) und Friedrich Schillers «Don Carlos» (1979) zu seinen besten Inszenierungen.
Der am 11. September 1918 im schlesischen Deutmannsdorf geborene Palitzsch fing nach einer kaufmännischen Ausbildung und dem Kriegsdienst an der Volksbühne in Dresden als Dramaturg an, bevor ihn Brecht 1948 als Mitarbeiter ans neu gegründete Berliner Ensemble holte. Dort machte er ein Jahr später mit Synges «Playboy of the Western World» erstmals als Regisseur auf sich aufmerksam.
Danach war er in Partnerschaft mit dem späteren BE-Intendanten Manfred Wekwerth für eine Reihe legendärer Inszenierungen verantwortlich wie zum Beispiel Brechts «Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui» (1959). Nachdem er schon beim Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in Loyalitätskonflikte mit der offiziellen DDR-Politik geriet, siedelte Palitzsch nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 in den Westen über.
1991 wurde er auf dem Berliner Theatertreffen mit dem Theaterpreis Berlin für sein jahrzehntelanges Wirken in beiden Teilen Deutschlands geehrt. 1992 kehrte er noch einmal ans BE zurück, wo er für kurze Zeit dem Leitungsteam mit Heiner Müller, Peter Zadek und Fritz Marquardt angehörte, dem aber kein Erfolg beschieden war. «Wir waren viel zu alt, um noch neugierig aufeinander zu sein», sagte Palitzsch später dazu.
In den letzten Jahren inszenierte er unter anderem Strindberg, Tschechow und Pinter in Zürich und Basel. In Düsseldorf irritierte er 1999 mit einer Bühnenarbeit zum 100. Geburtstag von Gustaf Gründgens. Darin stellte Palitzsch noch einmal sein «Theater der Aufklärung» vor, um daran zu erinnern, das auch der Künstler nirgendwo auf einer «Insel der Seligen» leben könne, sondern immer auch in die gesellschaftspolitische Wirklichkeit eingebunden sei. Daran hat Palitzsch ein Leben lang geglaubt und festgehalten.
"tso" im "DPA-Newsticker" von "DER TAGESSIEGEL online" vom 18.12.2004, 18:57 Uhr.
Hervorhebungen kennzeichnen die Zeit der gemeinsamen Arbeit. WS.
In der gleichen Ausgabe wird vorab aus der gedruckten Ausgabe des TAGESSPEGEL vom Sonntag, den 19. November 2004, eine Rezension über die Inszenierung von "Hannelore Kohl" zitiert, die mein Lehrer aus den frühen 70er Jahren, Johannes Kresnik in Bonn zur Aufführung gebracht hat - und plötzlich amalgamieren sich gemeinsame Jahre in Bremen, in Ludwigshafen und in beiden Teilen Berlins in der Konfrontation mit den Toten durch die Lebenden. WS.
Brünnhilde auf dem Feuerbett
Sterben an der Summe des Lebens: Johann Kresnik inszeniert in Bonn „Hannelore Kohl“
Von Christine Lemke-Matwey
Diese Geschichte erzählt sich (fast) von selbst: Am Abend des 4. Juli 2001 rührt sich die prominenteste Kanzlergattin der Bonner Republik einen Tabletten-Cocktail aus Morphium und Nandrolon an, trinkt das Ganze mit einem Strohhalm, geht ins Bett und stirbt. Tags darauf zeigt sich ganz Deutschland erschüttert, vom Oggersheimer Bäcker um die Ecke bis zur großen Politik. Die Frage nach dem Warum aber konnte oder wollte bis heute keiner beantworten: Warum bringt sich Hannelore Kohl mit 68 Jahren um? Weil sie die Lebensumstände, die ihr eine ominöse Lichtallergie seit über sieben Jahren aufzwang - ein Dasein buchstäblich unter Tage, in den akribisch abgedunkelten Räumen ihrer Oggersheimer „Schwermutshöhle“ -, nicht länger ertragen konnte? So kommuniziert es das Büro von „Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl“. Weil die Spendenaffäre ihres Mannes, sein politisch-moralischer Niedergang ihre eigene Existenz in Frage stellten? Weil ein Schattenfrauenleben wie das ihre pfeilgerade in die Depression führen muss und sie sich bestenfalls mit dem immergleichen Betonlächeln dagegen zur Wehr setzen konnte, niemals selber gemeint zu sein? Hannelore Kohl, so sieht es Alice Schwarzer, sei am „Benutztwerden“ gestorben. Ein feministisches Pathos, auf das sich die Oggersheimerin wohl kaum verstanden hätte. Als Politikerfrau, gab sie 1992 einmal zu Protokoll, müsse man vor allem warten können. Sie habe da viel von ihrem Hund gelernt - denn der könne sich auch nach vier oder fünf Stunden „echten Wartens“ noch freuen.
Eine Geschichte wie fürs Theater gemacht? Der Beweis dafür steht noch aus. Weder Dea Lohers Hamburger Theaterstück nämlich noch die darauf fußende Produktion der Neuköllner Oper in der letzten Saison förderten hier wirklich Tragisches (oder auch Komisches!) zutage. Die genuin dramatische Qualität des Zerriebenwerdens zwischen immer da sein und nie stören, zwischen Selbstbehauptung und Beiseitetreten - es flüchtete sich bislang meist ins Esoterisch-Aperçuhafte. Dabei ist die Lichtmetapher überaus dankbar und auch tauglich: Die Frau, die vom Machtstrahlenkranz ihres Mannes geblendet wird, verbrennt, ja verglüht, schließlich zugrunde geht. Aber Hannelore Kohl war eben keine Lady Macbeth und keine Nora, eher eine früh gebrochene Wagner’sche Fricka oder eine jener elegisch implodierenden Figuren von Tennessee Williams. Überhaupt: ein Phänomen der Fünfzigerjahre. Die Frau als Frau an seiner Seite, als Spießgesellin und pflichtbewusste „Sonntagssekretärin“ - wer sollte sich hier eigentlich für wen Furcht, Mitleid, Katharsis wünschen?
Die andere Frage lautet: Darf Kunst das? Kann man ein authentisches zeitgenössisches Schicksal auf die Bühne bringen, ohne dass die eigene Befindlichkeit das Exemplarische kategorisch verhindert? Schon im Vorfeld der Bonner Premiere von Johann Kresniks „Hannelore Kohl“-Stück jedenfalls sah sich die örtliche Presse genötigt, erboste Leserbriefe abzudrucken. Das Ganze sei „geschmacklos“ und „Leichenfledderei“. In der Tat mutet es auf den ersten Blick pikant an, dass Kresnik, der Altmeister des aufklärerischen Zorns, der Experte in Sachen Frauensterben (Ulrike Meinhof, Rosa Luxemburg), für die Uraufführung seines neuen „choreografischen Theaters“ die Bundesstadt Bonn wählte. Aber eben nur auf den ersten Blick, denn Berlin ist hier mindestens so weit weg wie Oggersheim, und die Reminiszenzen an die Achtzigerjahre wirkten allesamt doch etwas flügellahm: Einerseits liegen sie allüberall voll im ästhetischen Bühnentrend, auch bei Mozart oder Ibsen, andererseits schreiben ein schmuddelockerfarbener Vorhang als Raumbegrenzung, ein sehr dicker Mensch in sehr großen Unterhosen oder neun wasserstoffblonde Hannelore-Kohl-Perücken (Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Heide Kastler) allein noch keine bundesrepublikanische Geschichte.
Und auch die zweite Befürchtung erweist sich bald als grundlos: Denn Kresnik, der Krawallmacher, Kresnik, bei dem es im Sinne eines kritischen Orgien- und Mysterientheaters ohne größeren Aushub an tierischen und/oder menschlichen Exkrementen selten abgeht, er mäßigt sich. Gewiss, es fließt an diesem knapp anderthalbstündigen Abend schon mal Blut, es wird vergewaltigt und geschossen und herumgesudelt, und wenn der mit Abstand fetteste der zehn Bühnen-Helmuts (sehr nobel: Hans-Jürgen Moll) mit Karnevalshütchen auf der Birne und von schwarzen DM-Stempeln übersät die Hosen runterlässt und eine seiner neun Bühnen-Hannelores ihm daraufhin direkt ins Faltenreich seines Allerwertesten starrt, dann ist das gewiss kein Bild für die Junge Union. Aber es ist auch kein Bild, bei dem man sich bloß hämisch auf die Schenkel schlägt. Denn fast immer schafft es Kresnik - und das ist das Ereignis, das macht das Bonner Publikum bei allem Misstrauen, aller wachsenden Betroffenheit am Ende einhellig jubeln -, die Grenze zu wahren und zu respektieren, den schmalen Grat zwischen grell-wütiger Groteske und anrührend clowneskem Trauerspiel. Die vielen Hannelores und Helmuts, die Wolfgangs (Schäuble) und Walters und Peters (Kohl), die Juliane Webers und Ulrike Meinhofs (ein kleiner politischer Gegenentwurf am Rande), sie alle haben etwas Unantastbares, eine körpersprachliche Würde - ganz gleich, ob die junge Hannelore nun von ihrem Nazi-Vater als Marionette missbraucht wird oder ob sie ihre beiden Söhne später an riesigen Nuckelflaschen wie Romulus und Remus säugt. In einer geradezu ätzenden Rasanz überschlagen sich die 22 Szenen dieses Bilderbogens (Libretto: Uschi Otten), und auch die Musik weiß zwischen Schlager und Wagner auf virtuose Weise oftmals nicht ein noch aus (Serge Weber).
Es ist die Summe des Lebens, sagt Kresnik, die diesen Tod verschuldet hat. Und also bildet der Selbstmord nur den Rahmen. Die unzähligen Plastikbecher mit Strohhalmen drin, die sich zu Anfang stapeln; der Schock eines echten Scherbengerichts aus dem Schnürboden, das gleißende Scheinwerferlicht, das sich unversehens in die eigenen Augen bohrt. Zum Schluss kriecht Hannelore in den Bauch jenes Flügels, der dem ganzen Abend Leitmotiv war: Ausdruck des Erhabenen wie des Spießigen, des Unheimlichen wie des Gemütlichen. Flammen züngeln empor. Brünnhilde auf dem Feuerbett. Ein sehr deutsches Schicksal.
Und zur Ergänzung noch "Viel Jubel für Hannelore-Kohl-Stück".
Ein in der Frankfurter Rundschau abgedruckter dpa-Bericht über das Gastspiel des Ensembles in Ludwigshafen vom Mittwoch, den 19. Januar 2005:
Der Skandal blieb aus: Das umstrittene Tanztheaterstück "Hannelore Kohl" ging in Helmut Kohls Heimatstadt Ludwigshafen ohne Störungen über die Bühne.
Die knapp 30 Tänzerinnen und Tänzer, die das Stück über Leben und Sterben der einstigen Kanzlergattin am Mittwochabend aufführten, erhielten von den knapp 1000 Zuschauern stellenweise sogar Szenenapplaus und wurden am Ende mit starkem und lang anhaltendem Beifall belohnt.
Das schien den für seine Provokationen bekannten Choreografen Johann Kresnik zu überraschen: Er habe damit gerechnet, dass es gerade in Ludwigshafen zu größeren Protesten und dem "Werfen von Stinkbomben" hätte kommen müssen, sagte der 65-Jährige nach der Aufführung. Die Erwartung schien berechtigt, hatten doch die örtliche CDU und der rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Christoph Böhr kritisiert, Hannelore Kohl werde in dem Stück "massiv verunglimpft". Doch die CDU-Vertreter waren offenbar dem Rat der Ludwigshafener Oberbürgermeisterin Eva Lohse (CDU) gefolgt, das Stück zu ignorieren.
Hannelore Kohl, die an einer Lichtallergie litt, hatte sich im Juli 2001 das Leben genommen. Das Stück beginnt mit ihrem Tod. Dabei tanzt die Darstellerin der Hannelore Kohl in einem goldenen Pyjama um einen Tisch, verschließt Abschiedsbriefe und trinkt einen Gift- Cocktail. Dann beginnt der Rückblick. In insgesamt 22 Szenen stellten die Tänzer das Leben der Frau von den Kinderjahren über ihren Alltag als Politikergattin bis zu ihrem Selbstmord dar. Buhrufe gab es auch dann nicht, als ein übergewichtiger Helmut-Kohl-Darsteller mit einer als Sekretärin auftretenden Tänzerin Sex simulierte. Als der Darsteller eines Rollstuhlfahrers mit dem Namen "Wolfgang" in den Bühnengraben geschubst wurde, quittierten einige Besucher dies sogar mit Gelächter.
Die Theaterbesucher kamen nicht nur aus Ludwigshafen, sondern waren aus ganz Süddeutschland angereist. "Mir hat die Aufführung sehr gefallen. Das war eine ästhetische Lebensbeschreibung und ein notwendiger Abend zugleich", sagte eine Rentnerin. Eine Gegenposition war schwer zu finden. "Das war ein billiger Triumph der linken Kulturszene über Helmut Kohl", erklärte ein Geschichtslehrer, der als Einziger in seiner Reihe nicht geklatscht hatte.
Mit dem am 17. Dezember 2004 im Bonner Opernhaus uraufgeführten Stück wollte Kresnik nach eigenen Angaben lediglich "ein deutsches Frauenschicksal zwischen Familie und politischer Karriere des Mannes" thematisieren. "Ich habe Hannelore Kohl nie verunglimpft und kann die Aufregung nicht verstehen", sagte der 65-Jährige. Die Uraufführung war ebenfalls mit minutenlangem Applaus sowie mit zahlreichen Bravo- Rufen gefeiert worden.
CDU-Landeschef Christoph Böhr sagte hingegen dem Politikmagazin "Ländersache" des "Südwestrundfunks", er habe "überhaupt kein Verständnis" für das Stück. Es sei "nicht nur eine Geschmacklosigkeit, sondern es ist vielmehr, es ist eine Verunglimpfung". Die Würde der Toten werde darin "auf eine schlimme Weise" verletzt. OB Lohse hatte die Aufführung schon im Vorfeld als "abscheulich und geschmacklos" bezeichnet. Sie stehe jedoch zur Freiheit der Kunst und lehne eine Zensur des Theaters ab.
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Dokument erstellt am 20.01.2005 um 11:42:02 Uhr
Erscheinungsdatum 20.01.2005