Wo ist "meine" Sendung?

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 26. Dezember 2015 um 22 Uhr 25 Minutenzum Post-Scriptum

 

0.

Der Versuch, eine 2014 im Radio-Player aufgezeichnete Sendung nochmals abzuspielen, scheitert. Und es gibt einen Punkt, an dem die Energie erschöpft ist, dem noch nachgehen zu wollen, woran das nun im Detail gelegen haben mag. Dann ist ein Punkt erreicht, dass der Widerspruch zwischen "dem Internet, das nichts vergisst" und der "Vergesslichkeit" einer solchen konkreten internetbasierten Service-Anwendung überhand nimmt und die konkrete Erfahrung dieses Widerspruch keine produktiven Kräfte mehr freisetzt, sondern nur noch Anlass zur Resignation gibt.

1.

All das, was uns heute von den über amazon vertriebenen Hörbüchern bis hin zu Spotify angeboten wird, wäre auch abrufbar, wenn es möglich wäre, auf die schier unendlichen Produktionen zu(rück)zugreifen, die über die Radio-Sender der ARD ausgestrahlt wurden.

Warum kann es nicht eine Art von Wikipedia für Radiosendungen geben, die von den Redaktionen und Archiven Zug um Zug befüllt und alsdann für all jene freigeschaltet werden wird, die heute die sogenannten Haushaltsabgabe bezahlen (müssen)?

Es ist bekannt, dass in mehreren ARD-Anstalten ganze "Schnürsenkel"-Archive vernichtet wurden, anstatt diese für den öffentlichen Zugriff bereitszustellen. Eine Erfahrung, die sich auch an konkreten Einzelfällen nachweisen lässt.


2.

Was "wir" derzeit haben, ist eine gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts, die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Wer sich auf die Website dieser Einrichtung begibt erkennt sehr schnell, dass dies noch nicht einmal einem Tropfen auf einem heissen Stein gleichkommt.

Oder sieht man dort nur die "Spitze eines Eisbergs"?

Enttäuschend ist, dass in diesem Archiv online nicht einmal jene Quellen bereitgehalten werden, die von der "Geburt" des deutschen Rundkfunks nach 1945 sprechen.

Ersatzweise wird zu dieser Frage ein Vortrag von Prof. Dr. Dietrich Schwarzkopf vorgehalten, den er zu seiner Verabschiedung als Vorsitzender der Historischen Kommission der ARD am 6. Oktober 2010 gehalten hatte.

3.

Unter dem Titel "Was will die ARD für ihr Publikum bedeuten?" ist dort zu lesen: [...] dass die Sendeanstalten "durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen" haben. Die Formulierung "Medium und Faktor" stammt aus dem Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1961. Die Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung (das ist die offensichtlich wertende Reihenfolge) zu dienen. Dabei sind insbesondere auch Beiträge zur Kultur anzubieten.

Er verweist auf den Gründungszeitpunkt, den "9. und 10. Juni 1950, als die Intendanten der damaligen Landesrundfunkanstalten zusammenkamen, um auf einer Tagung in Bremen die "Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland", kurz: ARD, zu gründen." und zitiert den ersten "ersten deutschen Generaldirektors des NWDR. Adolf Grimme, früherer preußischer und später niedersächsischer Kultusminister, ein ausgesprochener ’Schulmann’" der im Rundfunk das "modernste Instrument der Menschenformung" gesehen habe: "Die politische Mission des Fernsehens sei die Gestaltung des öffentlichen Lebens, verbunden mit ’Erziehung zum Qualitätsgefühl’. Das Fernsehen als Instrument der Bildung zum Guten könne den Menschen besser machen. "

4.

Interessant in diesem Zusammenhang, dass es schon 1948 zwischen dem Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) und seinem Publikum in der britischen Zone "’geradezu eine Mauer von Missverständnissen und Unverständlichkeiten’ aufgerichtet habe, die endlich abgetragen werden müsse."

"Zu diesem Zweck" ,so Dietrich Schwarzkopf in seinem Vortrag weiter, "übernahm es die Rundfunkschule des NWDR, die sich bis dahin der Nachwuchsausbildung gewidmet hatte, Vertreter des öffentlichen Lebens, die selbst Mittler zur Öffentlichkeit seien, einzuladen und ihnen in freimütigen Gesprächen Aufgabe und Funktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu erläutern. Das geschah bis 1955, also bis in die Fernsehzeit hinein, in 114 ’Spezialkursen’. Auffällig war, dass der NWDR vor Beginn der Aktion nicht herauszufinden versucht hatte, worauf sich Misstrauen und Unverständnis der Öffentlichkeit bezogen. Zu vermuten ist, dass der NWDR einem ohne förmliche Untersuchung erkannten Eindruck von Abschottung und Geheimniskrämerei entgegentreten wollte."

5.

In Hamburg gibt es / oder gab es lange Zeit den Spruch: "mach nicht den Alliierten", der so viel besagt wie, "versuche nicht, all die Widersprüche unter den Tisch zu kehren."

6.

"In der verwirrenden Fülle der globalisierten Internet-Welt wird der Ruf nach Orientierung in der Flut, nach Wissensvermittlung und nach gutem Rat lauter werden", lesen wir weiter". Und: "Mit dem Bedürfnis an Orientierung in der globalisierten Welt wird der Wunsch nach einem festen Halt in dieser Welt einhergehen, nach Zuhause-Sein im vertrauten unmittelbaren Umfeld, in der "Heimat". Auch diesen Wunsch kann die ARD am besten erfüllen, dank ihrer eigenen Verortung eben dort und ihrer Fähigkeit von Pflege der regionalen Nähe."

Und dann folgt der Satz: "Der Erziehungsfaktor wird in den ARD-Programmen dann verschwinden (es sei denn, man sieht Erziehung schon darin, dass man noch etwas lernen kann). Ein Treuhandverhältnis bleibt, ein Vertrauensverhältnis im Sinne des Sich-Verlassen-Könnens auf die Qualität des Orientierungsgebers."

7.

Soweit so gut. Und jetzt folgt die Frage, die sich eingangs nur an einem ganz banalen Beispiel gestellt hat: Wie kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese ihm durch die westlichen Alliierten zugewiesene Rollen und Funktionen noch ausfüllen? Durch einen Wandel vom Erzieher zum Treuhänder, so Schwarzkopf.

Jetzt aber steht auch diese Rolle und Funktionszuweisung unter Beschuss. Und das von innen als auch von aussen: Ein Riesen-Thema, das hier nur mit diesem beiden Stichworten umrissen wird, von der "Lügenpresse" und den den "neuen westlichen digitalen Alliierten". Und das Ganze nochmals verstärkt auf der Achse der technischen Entwicklung, durch die die klassische Bedeutung des "Broadcasters" durch neue Distributionsformen und -wege immer mehr in Frage gestellt wird - nicht (nur) ideologisch, sondern durch das praktische Handeln des Publikums.

Es wird Zeit, eine neue Rede zu schreiben unter dem Titel:
"Was kann dem Publikum die ARD morgen noch bedeuten? Lehrer - Treuhänder - Referenzpartner?"

8.

In diesem Text wird die Rede davon sein, wie derzeit allerorten versucht wird, den Einfluss der politischen Parteien in den Rundfunkräten aber auch so manchen anderen Gremien und Einrichtungen zurückzudrängen.

Und vielleicht wird der Eine oder die Andere begreifen, dass dieses immer noch der viel zu spät vorgenommene Versuch ist, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit eines politischen Diktates zu befreien.

Zugleich wird aber festzustellen sein, dass dieses Bemühen um eine grössere Unabhängigkeit von der Politik keineswegs eine Garantie für neue Freiheiten oder gar einen neuen demokratischen Freiraum mit sich bringen wird. Denn die bisherige Dominanz auf den weiteren Verlauf der Entwicklung wird nicht länger nur gefährdet durch die Einflüsse der privaten Verleger und Sendeverantwortlichen auf nationaler Ebene. Sondern es sind die internationalen Konzerne jenseits des klassischen Rundfunks, die diesem schon heute in Deutschland zu schaffen machen.

9.

 Die "reiche" ARD hat gegenwärtig mehr als 6 Milliarden Euro an Pensionsrückstellungen in ihrem Portfolio. Und nach Henryk M. Broder sind die : „ARD-Häuser [...] Rentenanstalten mit angeschlossenem Sendebetrieb.“
 Der "durchschnittliche" ARD-Zuschauer ist über 69 Jahre alt.
 Zum Thema Werbung schreibt die ARD auf ihrer Internetseite:
"Die Rundfunkwerbung galt – im Interesse der Unabhängigkeit des Mediums – als gewisses Gegengewicht zur mehr und mehr politischer Einflussnahme unterliegenden Rundfunkgebühr.Der Finanzierungsanteil der Werbung (plus Sponsoring) pendelte sich in der ARD bei etwa sechs Prozent ein, der Programmanteil sank angesichts des Ausbaus der Programme vor allem im Fernsehen ständig und liegt im Ersten Programm bei 1,0 Prozent, im Hörfunk bei 0,9 Prozent."

10.

In dem Begleitschreiben zur mittelfristigen Finanzplanung der ARD-Landesrundfunkanstalten 2017-2020 ist schon gleich auf der ersten Seite davon die Rede, dass die Aufwandssteigerungen auch "der Erhaltung der vielfältigen archivierten Programmschätze der ARD durch den Ausbau moderner Archivierungsverfahren" dienen sollen. Von der Zugänglichmachung in Richtung Publikum ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede.

Auch die Ausführungen auf Seite 8 helfen da nicht weiter: danach dient die Digitalisierung allein einer besseren inhouse-Versorgung der Redaktionen:
"Die Bestandssicherung des audiovisuellen Erbes hat das Ziel, den Verlust von erhaltenswerten audiovisuellen Programmschätzen zu verhindern. Die abschließende Überführung aller Fernsehproduktionen – unabhängig von ihrer analogen, digitalen oder filmischen Sicherung – in die neuen Videomassenspeicher ist der letzte Schritt in einer Reihe von Maßnahmen, hin zum vollständig file-basierten Archiv. Dadurch kann eine verbesserte praktische Zugriffsmöglichkeit für Redakteure bei der Erstellung eines Beitrags erreicht werden, sodass die Digitalisierung der Archive auch zu mehr Effektivität in der Programmarbeit führen wird. Die zeitgemäße Digitalisierung, die elektronische Erschließung und die vernetzte Verzeichnung der Bestände des audiovisuellen Erbes können darüber hinaus den Weg für einen dezentralen Zugriff auf die digitalen Archive ohne zeitliche Begrenzung ebnen. Außerdem wird damit die Voraussetzung geschaffen, dass in der Zukunft notwendige Überführungen in neue Speicherformate – was zum langfristigen Erhalt der Inhalte aufgrund der sich im Zuge der technologischen Fortentwicklung immer wieder ablösenden technischen Standards notwendig sein wird – automatisiert erfolgen können. Dies führt langfristig zu einer deutlichen Reduktion der Aufwendungen für die Langzeitsicherung."

Auch unter dem Punkt "9 Fazit" wird nochmals auf die Einführung moderner Archivierungsverfahren verwiesen - aber auch hier ohne jeglichen Bezug auf das Publikum.

P.S.

Bei der Vorbereitung dieses kurzen Textes kam natürlich auch die RadioWiki-Link ins Blickeld. Hinter diesem Claim steckt die Seite www.oldradio.de. Und dort sind nicht nur alte Radiogeräte sondern auch die ersten kommerziellen Fernsehempfänger aufgelistet.

Und unter diesen auch der Iris 532 von Loewe Opta aus dem Jahr 1952, der damit - wie die Legende annimmt - 1953 zum offiziellen Start des deutschen Fernsehens auch schon mit dabei gewesen sein dürfte.


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