Eine Mauer, 2 Deutschlands, 3 Enttäuschungen

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 16. Januar 2015 um 15 Uhr 38 Minuten

 

In der Nacht vom 12. auf den 13. August begannen Einheiten der Nationalen Volksarmee, unterstützt durch die Volkspolizei von sogenannten Betriebskampfgruppen, im Verlauf der quer durch Berlin verlaufenden Sektorengrenze Stacheldrahtzäune zu errichten und damit den Osten der Stadt vom Westen abzusprerren.

Noch wenige Monate zuvor, am 15. Juni 1961, hatte die DDR in das Haus der Ministerien an der Leipziger Straße in Ostberlin zu einer ihrer seltenen Pressekonferenzen eingeladen.

Der "Vorsitzende des Staatsrats, Genosse Walter Ulbricht" erklärte an diesem Tag: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

Es gibt in diesen Tagen eine ganze Reihe von Dokumenten, in denen die drei Sender des Deutschlandfunks aus Anlass dieses "Jubiläums" von vor 50 Jahren berichten. Sie alle sind in einem eigenen Themenportal unter der URL:

www.dradio.de/portale/50jahremauerbau/

zusammengefasst worden.

Und stehen hoffentlich länger als nur 7 Tage oder 6 Monate im Netz zur Verfügung.

Am Donnerstag, den 11. August 2011, wird in der Zeit kurz vor 7 Uhr morgens ein Interview von Gerwald Herter mit Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut für qualitative Markt und Medienanalysen GmbH ausgestrahlt, in dem es um die aktuelle Befindlichkeit der gesamtdeutschen Bevölkerung geht.
Und das nicht, weil die Befindlichkeit angesichts der Überwindung der deutschen Teilung erkundet werden soll, sondern angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Finanzkrise.

Die Kernsätze aus diesem Interview lauten:

  Einerseits ist bei den Menschen eine tiefe Verunsicherung spürbar, die Finanzkrise hat so die Dimension eines Schwarzen Loches, also über Nacht können nicht nur ganze Immobilien, sondern ganze Staaten, ganze Bankhäuser verschwinden. Das macht Angst.

 Ja, es hat ein bisschen so etwas von dem Tanz auf dem Vulkan, also die Grundbefindlichkeit ist, man weiß nicht, wie stabil die Lage ist, und weil man das nicht weiß, plant man nicht langfristig, sondern optimiert sich im Hier und Jetzt.

 Letztendlich sind wir in einer ganz komischen Gemengelage, also die letzten Monate waren ja dadurch bestimmt, dass sehr viele positive Botschaften lanciert wurden: Wir waren wieder Exportweltmeister, und die Konjunktur brummte. Dennoch stellten wir tiefenpsychologisch fest - wir machen ja keine Umfragen, sondern wir legen Verbraucher sinnbildlich auf die Couch -, dass diese ganzen tollen Botschaften eigentlich nicht geglaubt wurden.

 Wir haben in Deutschland eine eher skeptische Grundstimmung, und diese Grundstimmung hat eine doppelte Ursache: Einerseits ist sie darin begründet, dass die Menschen eine Art Glaubenskrise durchlaufen, sie haben das Gefühl, dieses System, das jahrzehntelang auf Wachstum gegründet war, das sein Heil immer in dem nächsten Aufschwung findet, ist eigentlich nicht mehr rettbar, also da ist ein großer Zweifel, ob es so mit dem kapitalistischen System weitergehen kann. Gleichzeitig gesellt sich zu dieser fundamentalen Glaubenskrise eine Vertrauenskrise. Man weiß nicht mehr, ob man den politischen Akteuren überhaupt folgen kann. Sind die verlässlich?

 Wir sind in einer Kulturwende, die bestehende Kultur zerfällt, diese Maximierungskultur, die ist so nicht mehr haltbar - das führt dazu, dass die Leute fast in eine sehr dumpfe Plünderstimmung geraten. [...] Gleichzeitig gibt es aber einen Gegentrend: Man sehnt sich wieder nach höheren Werten, nach Verlässlichkeit, nach einem natürlichen Maß.

 Es gibt ungeheuer viele Krisenfelder, die scheinbar aus dem Blickfeld geraten sind, aber plötzlich wieder aufploppen. Das ist so die Schuldenkrise in Europa, das ist die Strahlenbelastung in Fukushima, dann tauchen die EHEC-Erreger wieder auf, dann merkt man, Gaddafi ist quasi mmer noch nicht besiegt - das heißt, wir sind auf einmal in einer Welt, wo es ungeheuer viele Krisenherde gibt, die wie in einer Endlosschleife immer wieder aufscheinen. Und dieses Gefühl der Krisenpermanenz, das unterminiert sehr viele frohe Börsenbotschaften, die man sonst in der Welt auch bekommt.

 Also uns fehlt eine übergeordnete Glaubensmaxime, mit der wir diese ganzen Nachrichten einordnen können. Wir sind wirklich in einer Situation, wo wir nicht mehr wissen: Wofür steht Deutschland, wofür steht die Welt, woran können wir überhaupt noch glauben?  [1]

Das alles, so der Psychologe Grünewald, macht die Menschen sehr viel sensibler für - wie er sagt - "Ad-hoc-Nachrichten", und er begründet damit indirekt auch, warum "das Internet" mit seinen Informations- aber auch seinen Konsum- und Unterhaltungsangeboten immer erfolgreicher sein wird.

Zugleich bedeutet dieses aber auch - neben den jeweils neuen aktuellen Krisenberichten -, dass schon längst vergessen geglaubte Themen dieser Art im Hintergrund ihren Einfluss auf das "geistige Auge" nicht verlieren und gleichsam "wie Untote wieder auferstehen".

Grünewald spricht von einer "neuen Dimension" - und während er eigentlich über das Kosumentenverhalten in der Krise befragt wird, erfahren wir von der zunehmenden Unmöglichkeit, dass die Deutschen die zunehmenden Krisenphänomene noch wirklich erfassen, geschweige denn verarbeiten können.

Es gibt - so führen wir den Gedanken an dieser Stelle weiter - keinen (gemeinsamen) Feind mehr, keinen Gegner, kein Schwarz und Weiss mehr, das einem in dieser vielfarbigen Welt noch Orientierung anbieten könnte.

Und es gibt auch keine Möglichkeit mehr, sich mit den Dimensionen dieser Herausforderungen noch irgendwie vertraut zu machen. Immer noch dem Lernprozess unterworfen, dass die Welt eine Kugel - und damit global - sei, bewirkt der Blick auf die heute nicht mehr flackernde Matt-Scheibe ein zunehmendes Unverständis über all das, was sich dem eigenen Verstand als "input" zu widersetzten scheint.

Information at your fingertips? Ja.
The world at your fingertips? Nein.

Nach der Angst von dem Auseinderbrechen der Familie die Angst vor dem Auseinanderbrechen des Gemeinwesens Staat. Die Einsicht, den Staat noch mit seinem Geld unterhalten zu müssen, schwindet umso mehr, desto stärker dieser die Erkenntnis verkündet, mit diesem - unserem - Geld die Banken unterhalten zu müssen.

Egal, was die Rating-Agenturen entscheiden werden, wir, die Amerikaner, werden immer ein "Tripple-A-State" bleiben. Soweit ihr Präsident Obama.

In Deutschland weiss inzwischen jeder, dass auch die Renten n i c h t mehr sicher sind. Und wer der Behautung der Bundeskanzlerin wirklich noch Glauben schenkt, dass seine Einlagen in Höhe von bis zu Euro 50.000 gesichert seien, der sollte zumindest damit beginnen, Rücklagen, die diesen Betrag übersteigen, zu splitten und auf weitere Konten verteilen. [2]

"Die Finanzkrise", so wird das Interview überschrieben, "hat so die Dimension eines Schwarzen Lochs". Der sogenannte "Schwarze Freitag" im Oktober des Jahres 1929 war eigentlich ein "Schwarzer Donnerstag". Nur, dass die Europäer davon erst am nachfolgenden Freitag erfahren hatten. [3]

Anmerkungen

[1Das ganze Interview kann nachgehört

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved


und nachgelesen werden auf der folgenden Seite des Deutschlandfunks:
www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1526355/.

[2Oder in die Schweiz transferieren. Denn dort muss man nun auch alsbald sein Geld - wenn auch günstiger als in Deutschland - versteuern, doch wird es nach wie vor anonym bleiben. So habe denn das Abkommen zwischen beiden Ländern nach der Meinung des Westfahlen-Blattes aus Bielefeld vom 10. August 2011 die Qualität eines "überreifen Schweizer Käse: Es hat viele Löcher, es stinkt - und doch hat es beträchtlichen Nährwert".

[3Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. In Berlin hatte es am 13. Mai anno 1927 tatsächlich so etwas wie einen "schwarzen Freitag" gegeben. In den USA auch: am 24. September 1869. Und in London schon am 11. Mai 1866 - und "erstmals" am 6. Dezember 1745.


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