Wider die friedlichen Revolutionäre

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 15. Januar 2015 um 23 Uhr 50 Minuten

 

Dieses ist ein Nachtrag zu einer Veranstaltung mit Steffen Mensching, die am 16. Oktober 2009 im Forum des Hauses der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt wurde - geschrieben am 7. Februar 2010.

Einladung: Wir wollen Sie beschimpfen.
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Im Nachgang zu der hier als PDF angekündigten Veranstaltung kam es zu einem persönlichen Gespräch mit dem Autor und danach zu seinem Angebot, den vor ihm verlesenen Text zur Verfügung zu stellen.

Wir hatten uns nicht darauf verständigt, ob dieser ja öffentlich vorgetragene Text nun auch in dieser Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könne. Von daher wurde seine Wiedergabe zunächst unterlassen.

Aber auch mit der nötigen Distanz des Folgejahres beweist sich, dass die Aktualität des zu erinnernden Ereignisses über das "Jubiläumsjahr" hinaus besteht und das dieser Text von grosser Kraft und Spannweite ist, so dass jetzt doch - in langen Auszügen - daraus zitiert werden soll:

VORWÄRTS UND ALLES VERGESSEN

eine Beschimpfung der friedlichen Revolutionär/innen

Ich muss sie warnen, Sie unterziehen sich heute einem in der Geschichte der Beschimpfungen beispiellosen Experiment. In dem folgenden kleinen Referat wird das Wort Revolutionär in seinen verschiedenen Beugungen und Brechungen 113 Mal vorkommen. Ich bin mir nicht sicher, ob alle von ihnen eine solche Ballung verbalen Aufruhrs ohne Schaden an Körper und Seele zu nehmen, ertragen können. Außerdem weiß ich nicht, ob dieses Gebäude statisch auf solche Lostretung von Widerstandsenergie vorbereitet ist. Sollte es also irgendwann zu knirschen beginnen, blicken sie um sich. Wenn es nicht ihr Nachbar ist, der auf Grund meiner Auslassungen seine Backenzähne schärft, könnte es eventuell die Decke sein.

„Um eine Revolution zu machen, sind zwei Dinge erforderlich: jemand oder etwas, gegen das zu revoltieren ist, und jemand, der wirklich erscheint und den Aufstand macht. Die Kleidung ist normalerweise salopp, und beide Parteien können über Zeit und Ort mit sich reden lassen, aber wenn eine von beiden Gruppen sich nicht einfindet, wird die ganze Unternehmung wahrscheinlich scheitern.“

Mit diesem Satz von Woody Allen will ich Ihnen erklären, weshalb ich versucht habe, mich möglichst östlich zu kleiden. Die Kleiderordnung ist ein interessanter Nebenaspekt bei der Bewertung der friedlichen Revolutionäre. Viele bemühten sich damals um echten proletarischen Schick. Nach heutiger Einschätzung waren sie „voll retro“, szenetauglich. Später haben sie sich weit von ihren Ursprüngen entfernt. Modisch betrachtet. Diese Bemerkung zielt nicht auf die Leidenschaft gewisser Frauen, sich Halsketten umzuhängen und so einer Erscheinung nachzueifern, die Frau Elster hieß und die Lebenspartnerin von Herrn Fuchs war. Beide übrigens keine friedlichen Revolutionäre, sondern Repräsentanten des DDR-Staatsfernsehens.

Revolutionsfeiern kündigen sich in der Regel Jahre vor dem Ereignis an. Das macht es Veranstaltern leicht, Festredner zu rekrutieren. Denn, machen wir uns nichts vor, der eigentlich Anlass dieser als Beschimpfung getarnten Messe, ist – oder sollte sein – die mit stumpfen Nadelstichen geneckten Aufrührer öffentlich hochleben zu lassen. Allerdings steht noch in den Sternen, ob ich diese Erwartungen erfüllen kann. Eigentlich sind, wie ich finde, die friedlichen Revolutionäre in den letzten Monaten derart mit Weihrauch für die Ewigkeit konserviert worden, dass sie sich ein paar gezielte Leberhaken verdient hätten. Lenin wurde erst nach seinem Ableben einbalsamiert. Unsere sprichwörtlich Friedlichen dürfen schon zu Lebzeiten den entrückten Ausdruck epochaler Bedeutungsschwere genießen.

Zurück zum Auftrag. Weshalb ich den Job annahm, weiß ich nicht mehr. Offenbar steckte ich vor circa einem Jahr in einer persönlichen Finanzkrise oder wähnte mich in einem Zustand öffentlicher Missachtung, so dass ich leichtfertig zusagte, ohne auf das Thema zu achten. Für jedes schmutzige Geschäft braucht man Leute ohne Skrupel. Jemand wie ich, der klug genug war, sich in die ostdeutsche Provinz abzusetzen, schien dafür der richtige Kader. Im Glashaus der Hauptstadt wollte niemand mit Steinen werfen.

Allen, die gekommen sind, um einer verbalen Schlammschlacht beizuwohnen, muss ich raten, nach Hause zu gehen, solange die Türen nicht geschlossen sind, ich werde am heutigen Abend etwa drei Prozent schimpfen und 97 Prozent darüber räsonieren, warum ich schimpfen soll, aber nicht schimpfen kann. Ich bin zwar bekennender Ostdeutscher, aber soviel habe ich in 20 Jahren Freiheit doch gelernt, man schimpft auch unter demokratischen Verhältnissen nicht ungestraft und gerade, wenn man nicht weiß, wen man warum beschimpft, sollte man vor der Tat sicherheitshalber eine Rechtschutzversicherung abgeschlossen oder eine Rechtsanwältin geheiratet haben. Denn eine Lehre der friedlichen Revolution wurde von der Mutter derselben, Bärbel Bohley, in die knappe Sentenz gefasst: wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Das war Anfang der 90er Jahre. Inzwischen haben die meisten Revolutionäre den Inhalt dieser aus Bosnien gefunkten Botschaft dechiffriert und gelernt, ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass ehemals friedliche Revolutionäre sich vor Gerichten zu beinharten Nebenklägern mausern können.

Bevor wir also ins Blaue losschimpfen, sollten wir klären, wen unser angestauter oder aufgeschäumter Zorn eigentlich treffen soll. Es ist eine Frage, die schon Lenin immer mal in seiner Freizeit umtrieb: die nach dem revolutionären Subjekt. Also, konkret gefragt, denn die Wahrheit ist immer konkret: wer hat diese Revolution von 1989 eigentlich veranstaltet (und muss folglich die GEMA-Gebühren bezahlen etwa für Dona nobis pacem usw.) Waren es die Deutschen? Die Ostdeutschen? Die südlichen Ostdeutschen? Informelle Gruppen? Das neue Forum? Die Kirche? Oder gar nur ein Häuflein bärtiger oder langhaariger freiheitsbegeisterter Dissidenten?

[...]

Zugegeben, ich hatte zu den DDR-Bürgerrechtlern stets ein humorvolles, aber nie unkritisches Verhältnis. Als sie auftauchten, bewunderte ich ihren Mut, ihre Rigorosität, die unideologische Unbeschwertheit, mit der sie sich der Wirklichkeit annahmen, egal ob sie Politik, Volksbildung, Umwelt oder Geschichte betrachteten. Sie formulierten überspitzt, unausgewogen, polemisch. Ihre Denkweise entsprach ihrer Art sich zu kleiden, einfach, uneitel, ungebügelt. Sie bildeten ein Sammelbecken verschiedenster Anschauungen und Temperamente unter dem Dach gemeinsamer Gegnerschaft: der Ablehnung der politischen Praxis der DDR. Andererseits wirkten sie konfus, unprogrammatisch, naiv. Und großmäulig. Jeder redete, wie es ihm passte und ob es gerade passte, Entschlossenheit paarte sich mit völliger Richtungslosigkeit. Das brachte manchen dadaistischen Effekt, förderte aber nicht unbedingt Vertrauen. Einem solchen Führer durch die Nacht konnte ich mich, preußischer Marxist, der ich war, nicht unterordnen. Später begriff ich, dass der Reichtum an Differenz, den ich in den Wendezeit als die Schwäche der Bürgerbewegungen angesehen hatte, ihre Stärke und Einzigartigkeit gewesen war. Von dieser inneren Widersprüchlichkeit blieb in ihrer retrospektiven Selbstbetrachtung nicht viel übrig.

Nach der Vereinigung verteilten sich die Bürgerrechtler – wenn sie sich nicht enttäuscht zurückzogen - in schöner Ausgewogenheit auf die etablierten Parteien. In diesem Schritt Opportunismus, Charakterlosigkeit, Eitelkeit, Karrierismus zu vermuten, ist billig. Dieser vulgär-materialistischen Interpretation rede ich nicht das Wort. Lebensnaher scheint mir eine andere Auslegung. Verschwörungstheoretiker erblickten in der massenhaften Konversion des ostdeutschen Revolutionsheeres keinen Zufall, sondern Taktik. Das Prinzip lautet: Trojanisches Pferd. Ein Rachefeldzug. Weil die Parteien der Bundesrepublik den Bürgerbewegungen bei der ersten Volkskammerwahl eine so schmerzhafte Niederlage zufügten, haben sich deren prominenteste Vertreter auf einer Geheimkonferenz in Wandlitz im April 1990 entschieden, als fünfte Kolonne den siegreichen Organisationen beizutreten, mit dem Ziel, sie von Innen zu zersetzen. Durch Ibrahim Böhme kriegte die SPD-Führung von dieser Tagung Wind und beschloss ihrerseits einen Spitzenmann in die ostdeutsche PDS einzuschleusen. Dies glückte ihr erst relativ spät. Und es bis heute noch unklar, ob der Maulwurf Oskar wirklich verlässlich arbeitet oder doch umgedreht wurde.

Vielleicht fasse ich das Thema auch zu eng? Und missverstehe das revolutionäre Subjekt, das Objekt der Beschimpfung. Vielleicht meinte die Friedrich-Ebert-Stiftung, das ganze ostdeutsche Volk, der große Lümmel, solle endlich mal eine Abreibung bekommen, die sich gewaschen hat. Immerhin ist diese Ethnie ja Schuld an allem, was in unserem Vaterland schief läuft, inklusive der Misere der Sozialdemokratie. Tatsächlich haben sich ja damals geringe Prozente der DDR-Bevölkerung aufgerafft – man beachte das Wortspiel: aufgerafft – und sind um die Häuser gezogen. Wir können froh sein, dass das Wetter im Wende-Herbst relativ mild war. Hätten im Oktober 89 ähnliche Temperaturen wie heute geherrscht, herrschte wohl noch immer Günter Schabowski über Ost-Berlin und sein demokratisches Gesellenstück stünde weiter weit sichtbar und betonschwer in der Gegend. Gut, Günter können wir mit Müh und Not und der notwendigen Amnesie dazurechnen, aber, das ganze ostdeutsche Volk zum friedlichen Revolutionär umzustilisieren, geht auf keinen Fall. Wir können diese Ehre unmöglich den Stasistatisten, Bonzen, Mitläufern und Opportunisten angedeihen lassen. Dieser Teil des Volkes darf und wird von mir heute auf keinen Fall beschimpft werden. Diese Leute bleiben von den Gnade der späten Beschimpfung ausgeschlossen!

Sie merken, verehrte Damen und Herren, die Sache scheint einfach und entpuppt sich als höchst diffizil. Wer bei der Durchführung einer bezahlten Verbalattacke derart ins Rudern gerät, sollte sich die Frage stellen. Cui bono? Wem nützt die Flegelei? Die Ebert-Stiftung gilt als, wie man landläufig sagt, SPD-nahe Einrichtung. Warum sollten Sozialdemokraten Revolutionäre beschimpfen? Vielleicht, um sicher zu gehen, dass kein eigener Genosse verunglimpft wird.

Wissen wir eigentlich, wovon wir reden, wenn wir „friedliche Revolution“ sagen? Mir scheint, der zeitliche Abstand hat uns nicht klüger, sondern dümmer gemacht. Das Ereignis droht im Nebel der Interpretation undeutlich zu werden.

Diese Revolution umgibt eine merkwürdige Aura. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. aber die Tatsache, dass die Deutschen in Ost und West, in Nord und Süd, oben und unten, links wie rechts, diese Revolution mehrheitlich bejubeln und zu einer nationalen heiligen Kuh erhoben haben, kann oder könnte einen skeptisch werden lassen. Was ist das für eine Umwälzung, die keine Opposition hinterlässt? Klar, die Trotzkisten spielen immer noch verrückt, und reden vom Klassenfeind, der die Macht an sich gerissen hat, aber die 4. Internationale ist ja immer gegen alles und jeden. Beim Rest herrscht eine fadenscheinige Einigkeit. Und jeder, der sich – wie ich es jetzt könnte – hinstellt und sagt: das Ganze ist ein Phantasmagorie, eine ideologische Luftblase, läuft Gefahr, als Nestbeschmutzer beschimpft zu werden, und zwar wirklich, real und möglicherweise mit heftigen Ohrfeigen.

Es ist zum Beispiel eine Revolution, die – im Gegensatz zu ähnlichen Ereignissen der Showgeschichte – keine wirklichen Verlierer kennt. Nach der großen französischen und der noch größeren russischen sah man in den Straßen von Paris und Petersburg die ins Elend gestürzten Eliten, den Adel, die Beamtenschaft, die degradierten Militärs. Ich sage nicht, dass ein solches Massenelend in Berlin und Leipzig wünschenswert gewesen wäre. Noch weniger habe ich mich danach gesehnt, Wolf Biermann als selbst Hand anlegenden Exekutor an Berliner Laternen zu erleben. Vielleicht ist der anämische Charakter dieser Revolte ein Ausdruck ihrer menschlichen Größe? Trotzdem stellt sich die Frage: wie lief das ab? Wo sind denn die Späne? Oder wurde gar nicht gehobelt, sondern nur montiert?

Wenn man unterstellt, dass eine Revolution eine Umkehrung der Macht – und Eigentumsverhältnisse bedeutet, kann man sich fragen, wie man es schaffte, dass nach der ostdeutschen Umwälzung eine solche allgemeine Zufriedenheit herrschte? Entweder, muss ich mutmaßen, wurde nicht umverteilt – dagegen sprechen die sichtbaren Tatsachen - oder aber es wurde so geschickt umverteilt, dass irgendjemand nicht mitkriegte, dass er übers Ohr gehauen wurde. Hat man etwa jemand mit bunten Glasperlen abgespeist, um an das Gold oder Geld zu kommen?

Versetzen wir uns zwanzig Jahre zurück. 1989 hatte das Wort Revolution in Ost und West einen ganz anderen Klang als heute. Im Osten war es entweder ein museales Versatzstück der Macht oder eine Drohung der Konterrevolution. Kaum jemand wagte, es ernsthaft als aktuelle Frage in die Debatte zu werfen. Auch nicht in den kühnsten Bürgerrechtskreisen. Im Westen war das Wort durch K-Gruppen und die RAF besetzt. Der Kleinbürger fürchtete sich sogar vor der sexuellen Revolution. Der westdeutsche Steuerzahler assoziierte, wenn er das Wort hörte, in keinem Zusammenhang Vereinigungsvorfreude, sondern sah eher mit Messern bewaffnete, russisch oder chinesisch sprechende Horden, die sein Grundstück überrannten, Bargeld forderten und mit seiner Frau freie Liebe anstrebten – da hat sich in den zwanzig Jahren einiges verändert.

Die friedliche Revolution war von Anfang an anders, sie hatte Stil und wurde – deswegen oder trotzdem? wir wissen es nicht - von der BILD-Zeitung freundlicher betreut als beispielsweise die Studentenunruhen von 1968. Diese Revolution bekam mit ihrem Ausbruch eine erotischen Anstrich und Vorschusslorbeer. Während Konservative, Wirtschaftsliberale, Banker, Konzernmanager normalerweise den Staatsschutz alarmieren, sobald das Wort Revolution die Runde macht, begrüßten sie die ostdeutsche Erhebung wie einen gutgelaunten Karnevalszug, Sektkorken knallten und die Russischwörterbücher kamen auf den Tisch. Aber warum? Aus nationaler Euphorie? Wegen der armen Brüder und Schwestern?

Indem ich dies hinschreibe, bemerke ich, auf was für dünnem Eis ich tanze. Ich habe Fotos von der Feier zum diesjährigen Tag der deutschen Einheit im Saarland gesehen. Vermutlich hat der Choreograf, der dort tätig geworden ist, seine Ausbildung in der Tanzakademie Kim Il Dschung in Pjöngjang absolviert. Diese Bilder sprechen eine deutliche Sprache, diese Revolution ist, das ist zu erkennen, ein nationales Heiligtum, ein Schrein, ein Graal, jedenfalls etwas, über das man sich nicht lustig machen sollte, wenn man die Hoffnung, einmal das Bundesverdienstkreuz zu bekommen oder von der Adenauer-Stiftung eingeladen zu werden noch nicht aufgegeben hat.

Deswegen erkläre ich ausdrücklich, hoch und feierlich, ohne jeden Schimpf, aber mit der Bitte an alle Pressevertreter, dies wortwörtlich weiter zu twittern: Die ostdeutsche, einzigartige, weil einzige artige, also friedliche Revolution war berechtigt, notwendig und wünschenswert, sie ist eine kostbare Perle unter den deutschen Revolutionen, sie beendete einen Zustand von Unfreiheit und Erstarrung, schuf Rechtssicherheit, Grundlagen einer Zivilgesellschaft, eine neue geopolitische Lage, löste die gefährliche Blockkonfrontation auf, brachte in das Leben von Millionen Leuten Bewegung. Nie war das deutsche Fernsehen spannender. Es suggerierte den Zuschauern das Gefühl, beteiligt zu sein, ohne dass sich diese je in Bewegung hätten setzen müssen. Kein Wunder also, dass TV-Zeugen in Sindelfingen oder Lüneburg heute der Überzeugung sind, aktiv an dieser Revolution mitgefochten zu haben. Mit der gleichen Berechtigung könnte ich behaupten, 1968 auf dem Mond gelandet zu sein, weil mich meine Eltern damals weckten und vor den Fernseher setzten.

Es ist – zwanzig Jahre nach der Wende – nicht mehr ganz leicht, herauszufinden, wer friedlicher Revolutionär war und wer nicht? Die ganze Sache fand dummerweise im Herbst statt, die ostdeutschen Straßen waren schlecht illuminiert:
„Im schönen Monat November war’s
Man marschierte mit Kerzenlicht
Drum wusste später niemand genau
Wer mitmarschiert war und wer nicht.“
Man erlebte damals und später immer wieder, wie viele sich als Revolutionäre, Oppositionelle, Regimegegner und Helden aufspielten, von denen man in den DDR-Zeiten nichts oder nur affirmatives Gesäusel vernommen hatte. Es meldeten sich mehr Widerstandskämpfer als die DDR Einwohner gezählt hatte. Kein Wunder, dass irgendwann auch die Westdeutschen glauben mussten, sie wären in Leipzig mit auf die Straße gegangen. So wurde aus der ostdeutschen eine gesamtdeutsche Revolution. Egal, wo man Widerstand geleistet hatte, ob bei der Demo um die Nikolaikirche oder vor dem Fernseher, wenn man sich standhaft weigerte von der ARD auf RTL umzuschalten. Deutschland, einig Widerstand.

[...]

Ich muss an dieser Stelle, damit keine Missverständnisse entstehen, eine Geständnis ablegen: Ich war kein DDR-Oppositioneller, kein Widerstandskämpfer oder Revolutionär, jedenfalls nicht, wenn man darunter versteht: Gegner des Systems. Mir fehlte dazu, erstens, die Überzeugung, ich war parteiloser Sozialist und kritisierte die DDR aus dieser Position heraus, zweitens fehlte mir für die revolutionäre Geste einfach der nötige Ernst. Ein Komiker kann kein Revolutionär werden, wenn er einer wird, hört er auf, ein Komiker zu sein. Ist ihnen aufgefallen, dass allen Revolutionären so ein gewisser sauertöpfischer Ernst ins Gesicht geschrieben steht. Das ist absolut notwendig. Revolutionäre müssen strikte Führer sein, man muss ihnen vertrauen, auch wenn sie nicht wissen wie es weiter geht. Ironie ist da ganz schädlich. Es macht einfach keinen Eindruck auf die Massen, wenn der große Steuermann ruft: wir stürmen jetzt den Präsidentenpalast oder wir lassen es sein, wir sind heute nicht fesch genug angezogen. Nein wirklich, Humor ist keine revolutionäre Tugend, Als ich am 4. November 89 die Theaterkollegen mit ihren Schärpen, auf denen „keine Gewalt“ stand, auf dem Alexanderplatz stehen sah, kam mir dies vor wie eine Szene bei Loriot oder Jaques Offenbach. Die meinten diese Pose ernst, während die Masse, die sich da durch die Straßen wälzte, die Angelegenheit auf eine frappierende Weise unernst und trotzdem wichtig nahm. Man befand sich auf einem euphorischen Höhenflug, man wollte nicht auf den Boden zurückgeholt werden. Deswegen kriegte der marxistische Rabe Heiner Müller Pfiffe, weil er zur Tagesordnung aufrief, nämlich der Bildung freier Gewerkschaften. In diesem Augenblick hatte der Dramatiker ein entschieden falsches Timing. Er sah in die Zukunft, stand vor revolutionären Hitzköpfen und forderte einen kühlen Kopf.

Man sieht: Die Beschimpfung von Revolutionären ist kein gefahrloses Unterfangen. Sie ist stark durch den Zeitpunkt beeinflusst, an dem die Verbalattacke unternommen wird. Beispielsweise ist es nicht ratsam, Revolutionäre im Augenblick ihrer umstürzlerischen Tätigkeit zu beschimpfen. Sie könnten dies nicht als sachlich-kritischen Hinweis oder Verbesserungsvorschlag auslegen, sondern persönlich nehmen und sich in ihrer revolutionären Würde gekränkt fühlen. Revolutionäre sind in der Regel hochsensibel und egozentrisch Eine solche unzeitige Beschimpfung kann für den Schimpfer ernste gesundheitliche Spätfolgen haben und eventuell mit Tod oder Lagerhaft enden. Ich will ein Beispiel wählen: Trotzki, den russischen Berufsrevolutionär zu beschimpfen wäre 1920 in Sowjetrussland eine suizidales Manöver gewesen, 1928 hingegen konnte man in der UdSSR mit einer solchen Attacke schon Reputation machen und 1938 war es allgemeine lebenserhaltende Bürgerspflicht, dies zu tun. Man kann behaupten, dass ein Satz gegen Trotzki, der 1920 einige Jahre Haft eingebracht hätte, 1938 vielleicht das einzige Mittel war, sich vor einer solchen Haft zu schützen. Die Schlussfolgerung aus diesem kleinen Ausflug in die Revolutionsgeschichte lautet: wenn du Revolutionäre beschimpfst, achte zuerst darauf, dass sie nicht mehr an der Macht sind.

Ich sehe an ihren Gesichtern, dass sie enttäuscht sind. dass sie mir mehr Dantonsche Kühnheit zugetraut hätten. Ich weiß schon, sie kamen hier her, in Erwartung eines kleinen Gemetzels. Dass ich mich hier zum Blödmann mache und die Bärbel angreife, wegen ihrer Ölbilder und die Vera wegen ihrem Hang zu plastischer Bijouterie und den Rainer wegen seiner Waffenverkäufe und den Erhard wegen seiner Bücher. Na, darauf komm ich vielleicht wirklich noch zurück. Gut, jetzt sind einige Klarnamen gefallen. Vielleicht sollten wir da ein wenig verweilen. Ich sehe hier in die Runde und erblicke einige Gesichter, die sich durch Faltenreichtum als Zeitzeugen empfehlen. Daher an Sie die Frage: nennen Sie mir doch bitte mal 10 Namen von prominenten Bürgerrechtlern/ friedlichen Revolutionären aus der Wendezeit. Wer fällt Ihnen ein? Kommen Sie, geben Sie mir eine Personage, an dem ich mein Mütchen kühlen kann. „Sein Mütchen kühlen“, ist das nicht ein wunderbarer Begriff, ideal für friedliche Revolutionäre?

Da kommt nicht viel. Wie grotesk. Wir feiern ein Jubiläum und die Aktionäre, ich meine die Aktivisten dieses Ereignisses sind vergessen. Als ich ein Kind war, in der DDR, hätte ich spielend zwei Dutzend von Antifaschisten und Revolutionären herunterbeten können. Ich kannte die größeren und kleineren Säulenheiligen meines Staates. Von den Helden der ostdeutschen Novemberrevolution gibt es nicht einmal Biografien. Jeder drittklassige DDR-Unterhaltungskünstler hat inzwischen seine Memoiren verfasst und veröffentlicht. Sogar Egon Krenz. Aber Henrich, Barbe, Schorlemmer, Birthler, Hilsberg, Krüger, Neubert, Nooke, Pflugbeil, Poppe, Reich, Reiche, Schultz, Tschiche, Lengsfeld, Eppelmann, Pustekuchen. Falls Ihnen diese Namen irgendwie bekannt vorkommen, das waren die revolutionären Charts vom Oktober 89. Damals wochenlang auf Platz 1, Bärbel Bohley, die Amsel vom Prenzlauer Berg. Viele der Genannten hatten nach dem März 1990 viel Freizeit. Sie haben diese nicht benutzt, um ihre Lebensreise zu beschreiben, ja nicht einmal, um uns Einblick zu gewähren in ihre Revolutionstagebücher. Nicht, dass ich eine solche Bücherflut herbeisehnen würde. Von einigen der Genannten reichen mir die mündlichen Äußerungen völlig.

Bleiben wir, bevor wir das heikle, weil verminte, Gebiet des Persönlichkeitsrechts betreten, zunächst bei den Begriffen. Es herrscht eine eigenartige Diskrepanz zwischen den Worten friedliche Revolution und friedliche Revolutionäre. Ich weiß ja nicht, wie es ihnen geht – vielleicht ist meine Interpretation auch nur eine Ableitung aus Vorurteilen und Ideologie oder gar persönlicher Beziehungen – aber für mich klingt das Wort von der friedlichen Revolution durchaus erhaben, feierlich, man sieht quasi eine Menschenkette vor sich, in der frierende Ostdeutsche, die alle aussehen wie Kinder von Bärbel Bohley und Mahatma Gandhi (dargestellt von Ben Kinsley) Kerzen halten und Kirchenlieder singen. Also, Erhabenheit, Pathos, im Hintergrund der Inszenierung fällt langsam aber sicher die Mauer ein, dargestellt von einem Mann mit Spitzhacke, eine Mischung aus Adolf Hennecke und Günter Schabowski (dargestellt von Günter Schabowski), eine Einstellung, die zumindest für mich, das Pathos stark relativiert. Adolf Hennecke übrigens war ein Arbeiter in der DDR, ein Aktivist, jemand der die Norm übererfüllt hat. Schabowski war das Gegenteil: kein Arbeiter, kein Aktivist und jemand, der eines Tages einen Zettel aus dem Ärmel zog und mit Pokerface erklärte: Liebe Genossen, ich sprenge die Bank!

Das Wort friedlicher Revolutionär klingt – Sie mögen mir vergeben – durchaus albern, es lässt an jemand denken, der behauptet, Großes vorzuhaben, aber doch nur mit dem Mund. Beide Begriffe scheinen nicht füreinander geschaffen, wie etwa verspäteter Intercityexpress oder finanzschwacher Multimillionär. Das Wort friedlich hat in unserer Sprache – bezogen auf Lebewesen – einen Geschmack von Reduktion. So redet man von Hunden, die laut bellen und knurren, worauf das Herrchen dann versichert: er ist friedlich, er tut einem nichts. Leute, die ausrasten, Betrunkene meist, ermuntert man, friedlich zu sein. Ich kann mir nicht helfen, aber es klingt darin eine gewisse Unentschiedenheit mit oder ein gewisser Unernst, eine gewisse Apathie. Goethe schrieb in den Maximen und Reflexionen einen Satz, der mir, wie ich heute finde, den Zustand unserer Revolutionäre deutlich beschreibt: „Es ist ihnen wohl ernst, aber sie wissen nicht, was sie mit dem Ernst machen sollen.“ Das Schöne an diesem Satz ist übrigens, dass es auch trefflich die Situation der anderen Seite, also der Gegenrevolution, der Regierung, der Funktionäre, der Bonzen, der Stasi, der Machthaber usw. beschreibt. Vielleicht hat diese neue deutsche Zögerlichkeit etwas dazu beigetragen, dass diese Transformation – oder, meinetwegen Revolution – so friedlich von statten lief. Natürlich weiß ich, wissen wir alle, was mit dem Adjektiv „friedlich“ gemeint ist, was es feiern soll und auch tatsächlich hochleben lässt, nämlich die Gewaltlosigkeit, mit der die Sache in Leipzig, hier in Berlin und anderswo in der DDR ins Rollen kam, ohne Tote, ohne ernsthaft Verletzte, ohne Eskalation, Lynchjustiz, ja selbst ohne zerschlagene Fensterscheiben und brennende Polizeiautos. Die Deutschen, die sonst kein Klischee auslassen, haben es der Welt gezeigt, wir machen das mal anders. Andererseits hat ein gewisser Lenin – den man getrost zu den eher friedlosen Revolutionären zählen darf, der hier heute also auch nicht beschimpft werden wird – einst behauptet, die Deutschen würden, im Falle einer Revolution, wenn sie den Bahnhof erobern wollten, zuvor noch eine Bahnsteigkarte kaufen.

Also, was eigentlich war das für eine Revolution? Und warum wurden diejenigen, die das ganze Spektakel angestiftet hatten, wenige Monate später so undankbar abgestraft? Anders kann man das Wahlergebnis vom März 1990 nicht bezeichnen. Die mutigen Stürmer und Dränger wären unter der 5-Prozenthürde geblieben, wenn es diese gegeben hätte. Die CDU machte das Rennen mit sage und schreibe 40 %. Was war in diesen fünf, sechs Monaten mit Ostdeutschland und den Ostdeutschen geschehen? Da ich nicht mehr weiß, was damals wirklich passiert ist oder ob das, was ich erlebt habe, wirklich passiert ist, oder ob ich mir alles nur einbildete – entschied ich mich, professionellen Beistand zu suchen, bei profunden Kennern der Materie nachzuschlagen, um mein Weltbild wieder gerade zu rücken. Der beste Kenner der deutschen Universalgeschichte ist bekanntlich der Knoppguido, der ultimative guide in Sachen german history. Er tourt zur Zeit mit einem multimedialen Vortrag durch die Republik, der einen Titel hat, der viel verspricht: „Die deutsche Einheit – wie es wirklich war“. Das wäre mein Mann gewesen, den hätte ich angehört und hernach mit Freude beschimpft, da wäre kein Auge trocken geblieben. Aber sein Vortrag startet in Erfurt erst am 11. November. Man kann da in Abwandlung eines großen Wortes sagen, wer zu spät vorträgt, entgeht der schönsten Beschimpfung.

Da der Guido ausfällt, muss ein anderer ran. Es wurden, wenn auch kaum Memoiren, so doch Unmengen Überblicke, Stimmungsberichte, Betrachtungen, Sekundärliteratur zum Jubiläum veröffentlicht. Ein dickleibiges Buch, es umfasst mehr als 500 Seiten – wir dürfen es als Richtung weisendes Standardwerk begrüßen – heißt „Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/1990“. Mit dem Titel ist schon die Tendenz angedeutet. Der Autor, ein ehemals aktiver friedlicher Revolutionär, hat fleißig Fakten zusammengetragen. Viele seiner Quellen stammen aus der Bundesbehörde für Stasiunterlagen, gefördert wurde das Unternehmen von der Bundesstiftung für Aufarbeitung. Der Autor zitiert zwischen wichtigen Fakten immer mal wieder unterdrückte DDR-Lyrik. Das hätte er nicht tun sollen. Manche Verse sind derart, dass man geneigt ist, dem Repressionsapparat ein sicheres ästhetisches Urteilsvermögen zu attestieren. Dort fand ich auch folgende Zeilen, die den Werdegang der enttäuschten Revolutionäre nach dem März 1990 in freie Rhythmen fasst. Ich will sie zitieren, weil sie, poetisch verdichtet, einiges auf den Punkt bringen und beweisen, dass eine neue politische Überzeugung nicht immer ad hoc neue literarische Strömungen hervor bringt: „nach der Revolution / da gehen sie zurück / die revolutionäre / in die kirchen / an die staffeleien / zurück zu den bleistiften / auf die dachböden / in die keller.“ Ja, das haben sie wohl in der Tat gemacht, die Revolutionäre, zumindest einige von ihnen, und man kann es ihnen gar nicht verdenken. Aber, die Frage sei gestattet: war denn die Revolution, als die Guerilleros zu ihren Bleistiften zurückkehrten, tatsächlich zu Ende, vollendet? Der Autor, nennen wir ihn spaßeshalber einmal X, meint „nein“ und verlängert den Verlauf der Revolution bis ins Jahr 1990. Für X vollendet sich die Revolution in der deutschen Einheit. Sie sei etwas Einzigartiges, „da es die erste Revolution war, die erfolgreich die Ideen von Freiheit und Nation miteinander verband. Unmittelbar und ohne Umwege ging aus ihr die Bundesrepublik als geeinter Nationalstaat hervor. Schon deswegen ist sie ‚unsere Revolution’“.

Ich muss gestehen, dass ich, als ich diese These des Autors X las, kurz zusammenzuckte. Die Ausweitung des Revolutionsbegriffs bis hin zur deutschen Einheit, erweiterte automatisch das revolutionäre Subjekt, die friedlichen Revolutionäre. Ich musste nun nicht mehr nur mit den an den Rand gedrängten Bürgerrechtlern rechnen, die zu ihren Bleistiften zurückgekehrt waren, sondern mit allen Ostdeutschen, die Fahnen und Fähnchen schwenkten und allen Westdeutschen, die es gar nicht erwarten konnten, ihre Grundstücke im Osten wieder zu bekommen. Bekanntlich schloss sich die DDR nach § 23 des Grundgesetzes an die BRD an. Die Revolution vollendete sich also laut X auf Grund von Paragrafen. Das ist ein echtes deutsches Schelmenstück.

„Unsere Revolution“ erschien als Hardcover bei Piper im Jahr 2008, ein anderes Buch – es heißt „Eine protestantische Revolution“ erschien 1990, es umfasst 114 Seiten, ist ein Broschurdruck, geschrieben von einem Autor Y, auch er einstmals aktiver friedlicher Revolutionär. Da ich X und Y persönlich kenne, habe ich mich auf ihre Schriften kapriziert. Die letztere Schrift ist noch ganz vom Eindruck des Geschehens bestimmt, der Atem der Geschichte ist noch zu spüren. Viele Fakten, die im Werk „Unsere Revolution“ vorkommen, werden auch in der „Protestantischen Revolution“ benannt. Gravierend sind zwei Unterschiede. Der Autor Y betont das Defizit der Revolution. Für ihn war die Kritik am so genannten realen Sozialismus Teil einer umfassenderen Kritik, die den Industrialismus der westlichen Welt insgesamt betraf. Y schreibt: Die DDR-Revolution war insofern nur ein Auftakt anstehender politisch-sozialer und ökonomisch-ökologischer Veränderungen... Sie kündigte die notwendige Umwälzung der industriegesellschaftlichen Lebensweisen und Organisationsformen an. Damit war sie nicht das Ende irgendeiner Entwicklung, sondern eine „vorletzte“ Revolution.“ Beim Vergleich beider Bücher fällt auf, dass zwischen X und Y stilistische Ähnlichkeiten bestehen. Die Ursache dafür liegt nicht in der Tatsache, dass die Ostdeutschen alle den gleichen armselig, soziologisch-trockenen Stil bemühen, sondern in dem Umstand, dass X und Y ein und derselbe Autor ist: Erhard Neubert.

Der Teufel scheut das Weihwasser, die Katze schleicht um den heißen Brei. Wir behandeln ein heißes Eisen. Über die Gründe, warum diese Revolution einen so entschieden friedlichen Verlauf nahm, ist viel spekuliert und referiert worden. Gorbatschow, die Kraft der Kirche, die Disziplin der Demonstranten, das Wetter, alles Mögliche wurde als Argument benutzt. Das entscheidende fiel meines Erachtens unter den Tisch. Die Revolutionäre, die Initiatoren der Veränderung, hatten entschiedene Forderungen, die Zerschlagung des Systems war nicht darunter. In ihrem Selbstverständnis waren die Bürgerbewegungen Reformer, von mir aus Reformatoren. In all ihren Pamphleten steht die Erneuerung des Sozialismus. Und nicht allein aus taktischer Raffinesse. Deshalb wurden sie von den staatlichen Organen zwar als Bedrohung eingestuft, aber als eine, die man glaubte, mit Repression und Kompromissen kanalisieren und marginalisieren zu können, wie man es zuvor mit den Friedens- und Menschenrechtsgruppen versucht hatte. Neuberts Begriff einer protestantischen Revolution traf also durchaus den Kern der Sache.

„Nie wieder Sozialismus? Das ist rote Grütze in Schwarz“ schrieb der Publizist Christoph Dieckmann damals. Solche Deutlichkeit und Klarsicht war selten. Stimmen, die Vernunft, Mäßigung, Relativierung einklagten, wurden als Miesmacher, Pessimisten oder eben Ewiggestrige, ergo Sozialisten, niedergebrüllt. Ich erinnere mich noch gut einer ZDF-Live-Sendung in der Gethsemanekirche, wenige Tage nach der Volkskammerwahl im März 1990, ich war mit mehreren Schriftstellerkollegen geladen, um über die Zukunft zu schwadronieren, Dabei waren, wenn ich mich richtig erinnere, Stefan Heym, Plenzdorf, Renate Feyl, Uwe Kolbe und ich. Ich machte, damals noch in einer sehr stürmerisch-drängerischen Phase, darauf aufmerksam, dass man sich nicht einbilden solle, dass durch die deutsch-deutsche Annäherung – von Einigung wagte noch niemand zu sprechen – irgendein Weltproblem einer Lösung näher käme, Ökologie, die Verarmung der dritten Welt, Eskalation von Gewalt und Krieg. Das wollte niemand hören. Frau Feyl, eine kluge Kollegin, ging mich an als sei ich Stalins später Schwiegersohn. Nur der alte Heym nickte nachdenklich und gab zu bedenken, dass Vorsicht angebracht wäre, wenn man sich im Hafen der Geschichte dünke. Die Sendung dürfte nicht uninteressant sein, ich bezweifle, dass sie im Rahmen der Revolutions- und Wiedervereinigungsfeiern aus dem Archiv geholt werden wird.

Als ich mich auf diesen Vortrag vorbereitete, sichtete ich einige alte Papiere aus der Wendezeit. Dabei musste ich an eine Sentenz Lichtenbergs denken. Der bucklige Physikprofessor aus Göttingen hatte um 1800 folgendes geschrieben: „Ich habe mir die Zeitungen vom vorigen Jahre binden lassen, es ist unbeschreiblich, was für eine Lectüre dieses ist: 50 Teile falsche Hoffnung, 47 Teile falsche Prophezeiung und 3 Teile Wahrheit. Diese Lectüre hat bei mir die Zeitungen von diesem Jahre sehr herabgesetzt, denn ich denke: was diese sind, das waren jene auch.“

Zwischen den Zeitungen fand ich ein Flugblatt vom Frühjahr 1990, das ich irgendwann für aufhebenswert gehalten hatte. Das ist es in der Tat. Und da man mir den Inhalt vielleicht nicht glaubt, habe ich es kopiert und mitgebracht. Unter der Losung „CDU Umkehr in die Zukunft“ wird dort ein kleiner Katalog von Forderungen aufgemacht und den gerade mündig gewordenen DDR-Bürgern vorgestellt. Dort konnten sie lesen, was Demokratie eigentlich ist. Wir verstehen Demokratie als Mitverantwortung und Mitbestimmung aller Bürger und ihrer gesellschaftlichen Gruppen, Chancengleichheit für alle, staatliches Handeln nach den Geboten der Gerechtigkeit, unauflöslichen Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung, von Rechten und Pflichten. Deshalb mit der CDU für die Freiheit des einzelnen, den Schutz seines Rechts und seiner Menschenwürde, für Demokratisierung und Durchsichtigkeit staatlicher Entscheidungen, Verteilung der Macht und ihre strikte Kontrolle, ein Wahlrecht, das den Willen der Bürgerinnen und Bürger unverfälscht zu Ausdruck bringt, Aufnahme der Menschenrechte in die neue Verfassung, ein Arbeits- und Sozialrecht, das Alte und Schwache einschließt, ein Steuer- und Gewerberecht, das soziale Marktwirtschaft in ökologischer Verantwortung ermöglicht und Leistung fördert, Unabhängigkeit der Richter, einen Verfassungsgerichtshof und parlamentarische Kontrolle aller Sicherheitsorgane, einen öffentlichen Dienst ohne Privilegien, eine Verwaltungsreform und Wiederherstellung der Länder.“ Dies Flugblatt lesend, fragte ich mich, warum ich damals nicht CDU gewählt hatte.

Wenn man sich heute anschaut, mit wie viel Begeisterung die Deutschen an dieser Revolution hängen, so wundert man sich, dass sie sich nicht viel häufiger Ausflüge in den zivilen Ungehorsam gönnen. Es muss ja nun nicht jede Woche sein, denn dann würde die Sache bald so ermüdend werden wie die europäischen Fußballcupwettbewerbe, die einen auch nicht mehr interessieren, seitdem sie permanent im Programm auftauchen. Revolutionen machen nur Spaß, wenn sie von Perioden relativer Ruhe abgelöst werden. Restauration nennt man das, die Erholungsphasen der Geschichte, in denen die Autobiografien der Revolutionäre erscheinen. Da uns diese bislang noch fehlen, müssen wir annehmen, noch nicht im Stadium der Restauration angekommen zu sein. Die Französische Revolution fand ihren vorläufigen Abschluss auch erst in der Wiederherstellung der Monarchie durch Napoleon Bonaparte. Vielleicht ist Ähnliches für Deutschland zu erwarten und der Schlosswiederaufbau hat so doch noch einen tieferen Sinn.

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Das Schöne an Revolutionen ist, dass sie Individuen ungeahnte Karriereschübe ermöglichen. Unsre Kanzlerin gibt dafür ein eindrucksvolles Exempel. Der Satz von Lenin (der im Zusammenhang mit Revolutionen einfach immer noch als Experte gelten darf) dass die Köchin den Staat leiten muss, ist hier beispielhaft. Auch die ostdeutschen Kader erschienen über Nacht, standen im Rampenlicht, ohne dass man viel über sie wusste. Es ist eher typisch für Revolutionäre, dass sie nicht aus der Nomenklatura kommen, gegen die sie aufmucken. Sie sind meist unbeschriebene Blätter. Auch gehört es zum revolutionären Image, sich nicht jedermann zu erkennen zu geben. Das fordern die strengen Regeln der Konspiration. Die Gegen-Revolution (in Gestalt des Staates) wird keine Gelegenheit auslassen, ihre Leute als Spitzel in die Reihen der Avantgarde einzuschleusen. Dass dies auch bei den friedlichen der Fall war, wissen wir seit Schnur und Böhme und so weiter. Da aber der Kaderstamm noch ungestalt ist, kann ein Jungrevolutionär schnell zu Ansehen und Ruhm gelangen, wenn man irgendwie auffällt.

Ich erinnere mich an eine kleine Szene, die mir damals sehr zu denken gab. Sie geschah schon im Januar 1990, also in einer Phase, als die Machtfrage noch nicht eindeutig geklärt war. Die erste freie Wahl stand noch aus, Modrow regierte, streng kontrolliert vom runden Tisch. Eines Tages fanden wir ins unseren Briefkästen einen ziemlich bescheiden gestalteten Handzettel, der alle Bürger aufrief, sich ihre Stasiakte in der Normannenstraße abzuholen. Ich fand das eine gelungene Aktion und fragte mich, wer wohl so blöd sein würde, auf diese Nummer hereinzufallen. Am Nachmittag sah ich mir im Fernsehen die Sitzung des runden Tischs an, ich glaubte, man tagte im Stadtschloss in Niederschönhausen. Die Sitzung wurde unterbrochen, weil ein Anruf eingegangen war, die Stasizentrale würde gestürmt. Der runde Tisch vertagte seine Sitzung und die dort versammelten Revolutionäre stürmten aus dem Raum. Auch ich stürzte – ich hatte schon damals gelegentlich journalistische Ambitionen – zu meinem Wartburg, der Baujahr 76 war und deshalb von mir zärtlich Biermann genannt wurde – ich fuhr aus dem Prenzlauer Berg (heute würde man sagen vom Prenzlberg) Richtung Lichtenberg, kam dort in der Dämmerung an, gerade als auch die Revolutionäre vom runden Tisch dort eintrafen. Sie fuhren Ladas – vermutlich hatten sie Polizeieskorte, denn sie waren inzwischen staatswichtige Personen - es regnete leicht, man spannte Schirme auf, Konrad Weiß stieg in seine schwere Lederjacke, ich hatte das Gefühl, Lenin würde zu dem Panzerwagen gehen, um seine berühmte Rede zu halten. Ich hatte – man möge mir die frühe Desillusionierung glauben oder nicht – das Gefühl, einer Inszenierung, einer Selbstinszenierung. Man hatte eine Rolle und man versuchte nun, ihr zu genügen. Ich lachte mir ins Fäustchen und fuhr wieder nach Hause.

Ich dachte damals: so schnell geht das. Gib ihnen ein Amt, eine Funktion – und sie funktionieren. Die Amateure agierten in diesem Moment mit einer befremdlichen Professionalität. Diese irritierte bei ihnen besonders, weil sie zuvor durch Unkonventionalität, Eigenwillen, Unangepasstheit aufgefallen waren. Jean-Luc Godard schrieb: „Die wahren Veränderungen passieren, wenn die Formen sich verändern, und die wahren Unveränderungen bestehen darin, dass Wörter ausgewechselt werden, wenn man „sozialistisch“ sagt statt „kapitalistisch“. Was hat sich wirklich verändert? Das ist interessant zu wissen.“ Es gab in der ostdeutschen Revolution Momente von Andersartigkeit, Augenblicke, in denen neue Politikansätze versucht, ungewöhnliche Fragen auf ungewöhnliche Art gestellt, neue Allianzen erprobt wurden. Wurden diese Chancen wahrgenommen oder rettete man sich wieder ins Fahrtwasser des Bewährten? Man könnte so meinen. Wäre da nicht Angela Merkel. Ihre Entwicklung schien bislang nur ein besonders kluger Schachzug der CDU zu sein. Wer könnte konservative Politik gesamtdeutsch besser verkaufen als eine gewandelte ostdeutsche FDJlerin? Aber man hat sich getäuscht. Angela Merkel ist mehr. Und sie ist nicht allein, Nooke ist bei ihr, die Vera, der Eppelmann und schließlich der strategische Neubert, von dem folgende radikal-demokratische Vision stammt:

„Die Bewegung der Selbstzerstörung sollte angehalten werden. Die Revolutionäre hatten in der Vorbereitung und im Vollzug der Umgestaltung den Rahmen der zurückgebliebenen deutschen Provinz ‚DDR’ längst gesprengt. Sie wollten die DDR als das Lernfeld globaler Probleme nicht einfach in eine neue westliche Provinzialität überführen. Darum hofften viele von ihnen, dass die DDR schon den übernächsten Schritt gehen könnte und auf die alten Lasten nicht noch die Schuld einer Beteiligung an der kollektiven Selbstzerstörung des Planeten geladen würde. Sie hatten das Paradigma gewechselt. Nicht mehr die Rationalität ökonomischer Maximierung und Optimierung sollte herrschen, sondern das gerechte Überleben aller sollte Maxime politischen und sozialen Handelns werden. Darum erschien in der Revolte auch schon eine Revolution eines neuen Typus.“

Klingt in diesem, 1990 geschriebenen Manifest, nicht die permanente Revolution an? Und forderte die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin am Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken nicht genau die Umsetzung dieser Strategie, als sie die Massen in Ost und West aufrief, eine – ich zitiere - „permanente produktive Unruhe“ zu entwickeln, die jener von 1989 gleiche. Noch scheute sie die klare trotzkistische Formel, um „unsere Menschen“ nicht zu verschrecken. Doch angesichts der Krise von der Staatsführung ausdrücklich zu „zivilem Ungehorsam“ gedrängt zu werden, vermittelt einem ein tiefes Vertrauen in die Kraft der Demokratie und die Weisheit unserer Führer. Wer kann zweifeln, dass Angela Merkel und ihre verdeckt arbeitenden Wühler weiter gehende Ziele verfolgen, als sich Lothar Koch und Westerwelle im Traum vorstellen können. Wie heißt der amtierende Kanzleramtsminister: de Maiziere? Den Namen hat man doch auch schon in anderen Zusammenhängen gehört. Nein, verehrte Hörer, wir alle sind, ohne uns dessen bewusst zu werden, stumme und sprachlose Zeugen einer beispiellosen Verschwörung. Deren Folgen werden nicht auf sich warten lassen. Unsere friedliche Revolutionärin und Kanzlerin weiß, was sie unter „permanenter produktiver Unruhe“ versteht. Eine Umwälzung, die auch den westdeutschen Genossen ihr revolutionäres Comingout beschert. Wann das Signal zum Aufstand von der CDU-Zentrale gesendet wird, weiß niemand. Der Herbst ist in Deutschland die passende Jahreszeit für Staatsstreiche, 2009, das passende Jahr. Eine Neun am Ende sollte es schon sein. Und dass sie 2019 noch am Ruder sein könnte, glaubt auch Angela Merkel nicht. Also, muss sie jetzt zuschlagen. Die Lage ist günstig. Die Zukurzgekommenen an Rhein und Isar haben ihre Chance verdient. Soviel steht fest: Sobald es zu den ersten Montagsdemos in Köln und München kommt, werden ihnen ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern mit Rat und Tat, warmem Tee, Kerzen und Dona nobis pacem zur Seite stehen. Pionierehrenwort!


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