"Spielen", ohne zu verlieren?!

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 28. April 2024 um 16 Uhr 05 Minutenzum Post-Scriptum

 

Das ist Berlin: Während in der Station in Kreuzberg die FDP in einem Parteitag zur "Wirtschafts-Wende" [1] aufruft, wird gleich nebenan in Mitte versucht, mit spielerischen Mitteln den Wettbewerb durch Formen der Kooperation zu ersetzen.

Dazu heisst es in der Pressemeldung der Berliner Festspiele vom 27. April 2024: Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration [2]

Kunstparcours am Gropius Bau hinterfragt Regeln und entdeckt neue Spielräume

Der von Joanna Warsza und Benjamin Foerster-Baldenius kuratierte Kunstparcours Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration wurde heute in Anwesenheit von Staatsministerin Claudia Roth eröffnet. Internationale Künstler*innen verwandeln den Platz neben dem Gropius Bau in einen künstlerischen Vergnügungspark, in dem die Besucher*innen elf Wochen lang trainieren können, Regeln in Frage zu stellen und frei miteinander zu spielen.

Das Projekt der Berliner Festspiele beschäftigt sich vom 27. April bis 14. Juli 2024 mit der gesellschaftsbildenden Dimension des Spielens und vereint vor und während der diesjährigen Fußball-Europameisterschaft der Männer ein Labyrinth aus großformatigen Kunstwerken, Performances, Workshops, Talks und eine Ausstellung zur Geschichte der Spielplätze. Der von Mittwoch bis Sonntag von 11:00 bis 20:00 Uhr geöffnete Kunstparcours ist kostenlos und richtet sich an Menschen aller Altersgruppen.

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien sowie Aufsichtsratsvorsitzende der Stiftung Fußball & Kultur EURO 2024: „Fußball kann ein Mittel des Kulturaustausches und der Verständigung sein – diese Energie, die in dem Sport steckt, wollen wir in diesem Sommer bei der Europameisterschaft besonders spüren. Mit dem Kulturprogramm zur EM wollen wir Fußball und Kultur zusammenbringen und zum Mitmachen und Dialog einladen. ‚Radical Playgrounds‘ ist ein wichtiger Teil dieses kulturellen Rahmenprogramms. Hier geht es um die spielerische und experimentelle Erforschung von Gemeinschaft, um Zugänglichkeit im öffentlichen Raum, um möglichst niedrige Barrieren und ganz wesentlich um Vermittlung. Das außergewöhnliche Kunstprojekt ‚Radical Playgrounds‘ schafft offene Spielfelder, auf denen ganz zwanglos neue Formen des Gemeinsamen erprobt werden können.“

Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, und Jenny Schlenzka, Direktorin des Gropius Bau: „Die Berliner Festspiele zeigen mit ihrem Projekt ‚Radical Playgrounds‘ direkt vor dem Gropius Bau den gemeinsamen Fokus auf performative und interdisziplinäre Formate und schaffen einen öffentlichen Raum für alle, der die Sinne aktiviert und zum Austausch anregt. Neben der Möglichkeit, Kunst spielerisch zu entdecken, setzt sich ‚Radical Playgrounds‘ kritisch mit der Kommerzialisierung im Spitzensport auseinander und sucht nach kreativen und künstlerisch inspirierten Alternativen. Für den Gropius Bau ist das ein wunderbarer Auftakt für das neue Programm, in dem das Thema Spiel einen Schwerpunkt bildet: Im Herbst eröffnet ein von der Künstlerin Kerstin Brätsch gestalteter, permanenter Spielort im Gropius Bau. Wir freuen uns darauf elf Wochen lang mit ‚Radical Playgrounds‘ alte Regeln auf den Kopf zu stellen.“

Kurator*innen Joanna Warsza und Benjamin Foerster-Baldenius (raumlaborberlin): „‚Radical Playgrounds‘ verstehen wir als Einladung, mehr Räume in der Stadt als Spielräume zu erobern, indem bestehende Grenzen überschritten, Traditionen ignoriert und Regeln in Frage gestellt werden. Die Besucher*innen sollen gemeinsam in einen freien Raum kollektiven Lernens und Verlernens eintreten, der offen ist für die Erkundung einer Vielzahl von Aktivitäten in einer radikal nicht-kompetitiven Umgebung. Auf jeder Schaukel, über jeder Rampe und unter jedem Karussell liegt eine Welt aus Engagement und Werten, für die die Künstler*innen stehen.“

17 internationale künstlerische Positionen für ein Spiel, bei dem alle gewinnen können

Die meisten Menschen erinnern sich an Situationen in ihrem Leben, in denen sie nicht Teil des Spiels waren. Die Künstlerin Céline Condorelli beschäftigt sich seit langem mit den Themen Spiel, Arbeit, Freizeit und Ausgrenzung. In ihrer großen öffentlichen Kunstinstallation „Play for Today“ fragt sie, warum der Mensch immer wieder Gründe erfindet, andere nicht (mit)spielen zu lassen.

Die Installation von Agnieszka Kurant macht eine Landkarte mit verschiedenen spielbezogenen Objekten wie Dominosteinen, einem Springseil oder einem Ball erlebbar – eine Hommage an die kollektive Intelligenz von Spielerfinder*innen, die nur die gesamte Menschheit als Urheber*in kennt.

The Playground Project von Stadtplanerin Gabriela Burkhalter – eine Open-Air-Ausstellung samt Forschungsprojekt – zeigt den Spielplatz als Ort, an dem Geschichten verhandelt werden, ebenso wie die Spannung zwischen Regeln und Freiheit, Vertrautem und Unbekanntem, Grenzen und Überschreitungen, Gegenwart und Zukunft.

Edgar Calel lädt die Besucher*innen zum Wiederaufbau einer unvollständigen Maya-Pyramide ein, deren Einzelteile in verschiedene europäische Museen, u. a. in Berlin, gebracht wurden. Im Inneren eines geheimen Gartens befindet sich die Ausgrabungsstätte von The School of Mutants, die auf den grundlegenden Akt des Grabens verweist und ihn mit der im Untergrund liegenden Kolonialgeschichte verbindet. An dieser Stelle befand sich einst das erste Völkerkundemuseum Berlins.

Auf einem Skywalk treffen Besucher*innen auf ein großes Wandgemälde von Irad Verkron, das eine mathematische Zeichnung mit einer Geschichte über die Suche nach einem verlorenen Spielgefährten aus der Kindheit verbindet. Der samische Architekt Joar Nango lädt die Besucher*innen ein, auf abgerundeten, rhizomartigen Auswüchsen von Birkenstämmen zu schaukeln, sogenannten Birkenmaserknollen, die traditionell zur Herstellung heiliger Sámi-Trommeln oder Milchgefäße benutzt werden.

Das dysfunktionale Karussell von Mariana Telleria scheint die Spannung zwischen dem ewig menschlichen Bedürfnis darzustellen, in die Kindheit zurückzukehren, und gleichzeitig die Unmöglichkeit, diesen Ort jemals wirklich wieder zu erreichen. Florentina Holzinger präsentiert ihre erste Skaterampe, die von zwei Autos getragen wird und den Besucher*innen die Möglichkeit bietet, darauf zu skaten, zu rutschen, zu klettern oder zu laufen. Ingela Ihrman bietet dem Publikum tragbare Kostüme an, um „…liebt mich, liebt mich nicht“ zu spielen; Tomás Saraceno bringt Besucher*innen des Kunstparcours zum Vibrieren und macht die Schwingungen von Spinnen und Planeten am eigenen Leib erlebbar.

Zur Abkühlung dient eine städtische Oase – „The Fountain of Knowledge“ von Raul Walch –, Strom lässt sich auf selbstangetriebenen Fahrrädern des verstorbenen Künstlers Martin Kaltwasser erzeugen. Entlang der Linie, auf der früher die Mauern des ethnografischen Museums standen, schlängelt sich ein langes textiles Labyrinth von Vitjitua Ndjiharine, das Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringt.

Auf der Niederkirchnerstraße, wo einst die Berliner Mauer stand, wird am 7. und 8. Juli ein performatives Reenactment des Fußballklassikers zwischen der DDR und der BRD aus dem Jahr 1974 als Zwei-Personen-Stück zu erleben sein. Die legendäre Fußballperformance von Massimo Furlan (als Sepp Maier) und der Fußball-Aktivistin Tanja Walther-Ahrens (als Jürgen Sparwasser) bewegt sich auf einem veränderlichen Terrain – sowohl in Bezug auf aktuelle Asymmetrien als auch auf Weiblichkeit, Queerness und „Schwäche“ im Fußball.

„Radical Playgrounds“ wird in den folgenden elf Wochen durch eine Reihe von offenen Workshops, Ergänzungen, Gesprächen, Spaziergängen und Dance Gatherings von Alice Chauchat allmählich wachsen. Gemeinsam mit Architekt*innen, Künstler*innen, Spieler*innen, Denker*innen, Nachbar*innen und Besucher*innen verwandelt sich der Parkplatz des Gropius Bau in einen multidirektionalen öffentlichen Raum der Begegnung – inklusive eines Sommergartens am Restaurant Beba und einer Abschlussveranstaltung im Juli samt Stand-up-Comedy über die heilende Kraft des Humors und des Spiels.

Wenige Gehminuten davon entfernt wird am Askanischen Platz im Rahmen vom Gallery Weekend Berlin 2024 eine Galerie des "HausMeisters" (wie er sich selbst nennt) Reinhard Stangl neu eröffnet, von der bereits in einem vorangegangenen Bericht am zweiten Februar dieses Jahres die Rede war: "Es ward Licht!".

Statt Wein und Brot wird den neue Betreibern nach sorgfältiger Anfertigung in den Folgewochen eine ausführliche Dokumentation mit mehr als 30 Interviews überreicht werden, die an diesem Tag entstanden sind. Hier schon mal ein Testfile mit den ersten Aufnahmen in der Reihenfolge ihrer Entstehung [3]:

P.S.

In der Sendung "Breitband" auf Deutschlandfunk Kultur wurde ein Bericht über diese Veranstaltung in der nachfolgenden Sendung "Rang 1" angekündigt "„Radical playgrounds“: Installation der Berliner Festspiele zu Fußball-EM-Start. Von Gerd Brendel", den es dann aber nicht gab. Viel ärgerlicher aber ist, dass die Sendung "Breitband" keine Komoderationen mehr zulässt und sich an diesem Tage - einst als Wortsendung konzipiert - mit drei nacheinander abfolgenden Musiktiteln verabschiedet. Nichts gegen diese ausgesuchten wunderbaren Titel im Einzelnen und ein grosses Lob an die Musikredaktion an dieser Stelle. Aber dass sie jetzt die Löcher stopfen muss, die die offensichtlich immer knapperen Redaktionsbudgets offenbar werden lassen, das kann weder dem Anspruch des Hauses noch den Erwartungen des Publikums gerecht werden. WS.

Anmerkungen

[1

[2

[3Die hier eingesetzten Music-Snippets stammen kommen von dem Ukraine-DJ-Team ARTBAT

aus dem Jahr 2019 und wurden am Bondinho Pão de Açúcar in Rio de Janeiro aufgezeichnet


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