Yad Vashem: Follow-up

VON Dr. Wolf SiegertZUM Freitag Letzte Bearbeitung: 24. Januar 2020 um 14 Uhr 16 Minuten

 

Die Reaktionen auf die Rede des Bundespräsidenten sind zahlreich und haben zumeist einen zustimmenden Grundton. Im Inland wie im Ausland. Aber in all diesen Beiträgen ist es die Ausnahme, dass die Gesamtheit der Beiträge dieses Tages Gegenstand der Betrachtungen ist. Von ganz besonderer Bedeutung sind die beiden in Israel publizieren Beiträge.

BADISCHEN NEUESTEN NACHRICHTEN, Karlsruhe: „Ohne die Menschen, die anschaulich und konkret berichten können, wird die Erinnerung anonym und abstrakt, damit auch fern und unnahbar. Die Folgen sind schon jetzt zu erkennen, wie Umfragen belegen. Nur noch 59 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland wissen, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrations- und Vernichtungslager war. Und bei Besuchen in den Lagern stellen die Verantwortlichen zunehmend fest, dass die Jugendlichen die Zahl der Opfer infrage stellen oder revisionistische Thesen vertreten. Ohne die Zeitzeugen dürfte diese Entwicklung noch zunehmen“.

DONAUKURIER, Ingolstadt: „Im Jahr 2000 hatte der damalige Bundespräsident Johannes Rau in der Knesset das israelische Volk um Vergebung für den Völkermord an den Juden gebeten. 2008 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem israelischen Parlament den viel diskutierten Satz geprägt, die Sicherheit Israels sei auch Teil der deutschen Staatsräson. Gestern nun sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Holocaust-Mahnmal Yad Vashem – dem vielleicht schwierigsten Ort, an dem ein deutscher Politiker eine Rede halten kann. Und auch Steinmeier fand einen prägenden, leider sehr aktuellen Satz: ‚Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.‘ Der Bundespräsident rückte damit zu Recht den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und Europa in den Fokus“.

EL MUNDO: „Der Antisemitismus ist nicht verschwunden“ „Er hat nur einige Jahre geschlafen, um dann wieder aufzustehen, oft unter dem Deckmantel der Israelfeindlichkeit. Der Antisemitismus betrifft nicht nur die Juden, warnte der israelische Präsident Rivlin. Antisemitismus und Rassismus sind eine bösartige Krankheit, die Gesellschaften von innen heraus zerstören kann und gegen die keine Demokratie immun ist.“

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG: „Die Antwort auf die Rhetorik des ‚Vogelschisses‘ hat Steinmeier in seiner Rede gegeben: ‚Dieses Deutschland wird sich selbst nur dann gerecht, wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht wird.‘ Daher kann die Erinnerung an die Vergangenheit kein bloßes Ritual sein: Es geht um die Identität unseres Landes. Steinmeier hat in Jerusalem die richtigen Worte für das Geschehene und für die Bedeutung gefunden, welche das Gedenken für Gegenwart und Zukunft hat. Die entscheidende Passage seiner Rede ist jene, in der er konstatiert, dass die Erinnerung nicht gegen das Böse immun macht. In Jerusalem sprach der Bundespräsident vom ‚Wunder der Versöhnung‘. Dieses Wunder ist Verpflichtung“.

HAARETZ, Tel Aviv: „Der deutsche Präsident hat eine mutige, ehrliche und inspirierende Rede gehalten. Er sieht sein Land in der vollen Verantwortung für den Holocaust, ohne jeden Vorbehalt. Und er hat den Blick direkt auf die Gegenwart gerichtet und sie zutreffend beschrieben, als er sagte, er wünschte, die Deutschen hätten ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt – aber in Zeiten, in denen sich Hass ausbreite, könne er dies nicht sagen. Die Rede von Ministerpräsident Netanjahu war ein Meisterstück der Ablenkung. Er wiederholte den Kern seiner Doktrin, wonach Israel sich nur auf seine eigene Stärke verlassen kann. Für ihn ist das die einzige Lehre aus dem Holocaust. Es ist jedoch eine unvollständige und verzerrte Lehre – und, für sich allein genommen, eine destruktive. Israel versteht vielleicht die Vergangenheit, wie es der deutsche Präsident von seinem Land gesagt hat, aber es versteht die Gegenwart weit weniger. Deutschlands Präsident hat dies zugegeben, doch Netanjahu ist weit davon entfernt“.

JERUSALEM POST: „Das korrekte hebräische Verb für eine Reise nach Jerusalem ist ‚la’alot – emporsteigen. Sowohl physisch als auch spirituell muss man sich nach oben bewegen. Nichtsdestotrotz schien in dieser Woche der Ausdruck ‚in Jerusalem einfallen‘ angemessener. Rund 50 hohe Würdenträger – unter ihnen Präsidenten, Premierminister, Prinzen und Politiker – reisten zum fünften Welt-Holocaust-Forum in die heilige Stadt. Sie gedachten dort der Befreiung von Auschwitz, des Nazi-Todeslagers, das alles Böse symbolisiert. Allgemeine Erklärungen gegen Rassismus und Hass abzugeben, ist eine gute Sache, es ist zugleich gute Werbung und politisch nützlich. Aber dieses Gedenken muss mehr sein als eine schöne Foto-Gelegenheit. Damit diese Zusammenkunft echte Bedeutung erlangt, darf die Politik nicht bei der Erinnerung stehenbleiben, sondern sollte gegen modernen Antisemitismus vorgehen, sei es auf dem Weg der Bildung oder durch Gesetze gegen den Hass“.

RZECZPOSPOLITA, Warschau: „Jerusalem hatte noch nie so viele Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt gleichzeitig zu Gast. Viele entdeckten dabei zu spät, dass sie die Rolle von Statisten in einem Spektakel spielten, bei dem der Kreml die Regie führte. Warum fand die Gedenkfeier nicht im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau statt, wo jedes fünfte Holocaust-Opfer starb? Weshalb ließ man den polnischen Präsidenten nicht zu Wort kommen, das Oberhaupt jenes Landes, in dem vor dem Krieg die meisten der später ermordeten Juden lebten? Und wie war es möglich, dass die Organisatoren der Feierlichkeiten gerade dem Präsidenten Russlands, eines autoritären Staates, der bis heute nicht zugibt, in den ersten zwei Jahren des Zweiten Weltkrieges mit Hitler zusammengearbeitet zu haben, im Rahmen der Veranstaltung die Hauptrolle gaben?“.

STANDARD, Wien: „Die Geschichte ist ein beliebter Austragungsort für politische Konflikte, das ist an sich nichts Neues. Dass aber selbst das internationale Gedenken zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz unter zwischenstaatlichem Hickhack leiden muss, markiert einen Tiefpunkt in der hohen Kunst der Diplomatie. Duda hätte zeigen können, dass angesichts von Millionen Holocaust-Toten auch in der Ruhe diplomatische Kraft liegt“.

TAGESSPIEGEL, Berlin: „Ein Dreivierteljahrhundert nach dem industriellen Massenmordan Millionen Juden, dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, begangen von Deutschen, werden in Deutschland Synagogen angegriffen und jüdische Kinder bespuckt, müssen Juden fragen, ob sie in diesem Land sicher leben können. Das ist ein Skandal. Die Vorgänge wecken Zweifel, ob der Anspruch überhaupt einzulösen ist: für immer aus der Geschichte zu lernen.“


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