0.
Um 12 Uhr Mittags ist für heute eine Schweigeminute angesagt. [1]
1.
Diese Aufforderung weckt sofort Erinnerungen an den Shoah-Gedenktag in Israel. Jeweils um 10 Uhr morgens des 16. Aprils gefriert das öffentliche Leben in Stadt und Land ein. Bahnen und Busse bleiben stehen. Die Autofahrer halten an, steigen aus und bleiben neben ihrem Wagen stehen.
Eine Schweigeminute gab es in Deutschland bereits zu Beginn diesen Jahres: nach den Überfällen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt im Paris. [2]
2.
Am 19. September 2014 - an dem Tag, an dem wir in Berlin einen ganzen Tag lang über die Werte in der digitalen Welt gesprochen hatten - haben erstmals auch französische Rafale-Kampfjets Stellungen des sogenannten "Islamischen Staates" im Irak angegriffen. "Unser Ziel ist es, zu Frieden und Sicherheit im Irak beizutragen, indem wir die Terroristen schwächen", hatte der französische Staatspräsident Hollande damals gesagt.
Am Sonntag, den 15. November 2015, ist ein ganzes französisches Kampf-Geschwader aufgestiegen, um Bomben über Syrien abzuwerfen, auf Al-Rakka, wo der "IS" - so die Nachrichten - ein Ausbildungslager für Terroristen sowie eine Kommandostelle mit Waffen- und Munitionslager unterhält.
3.
Auszüge aus Kommentaren deutscher Zeitungen, so wie sie heute kurz vor 9 Uhr im Deutschlandfunk vorgelesen wurden:
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG:
"Nach den Terroranschlägen gab Bundeskanzlerin Merkel eine bewegende, in ihren politischen Teilen aber merklich vorsichtige Antwort. Der französische Präsident Hollande und Bundespräsident Gauck sprachen von ’Krieg’. Merkel redete von ’Kampf’. Das Bedürfnis nach Sicherheit beantwortete sie mit der Betonung der Freiheit. Merkel setzt ganz offenbar nicht darauf, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Es sind Zweifel angebracht, ob das die Sprache ist, die in Syrien, im Irak, in Afghanistan, in Pakistan, aber auch von Dschihadisten in Deutschland verstanden wird. Wenn Paris um ’jedwede Unterstützung’ bittet, wird es sicherlich und zu Recht nicht nur um Gemeinschaftsgefühle gehen"
FRANKFURTER RUNDSCHAU:
"Der ’Islamische Staat’ führt keinen Krieg, jedenfalls nicht in Europa [...] Er mordet heimtückisch und voller Niedertracht ahnungslose, wehrlose, unschuldige Menschen. Den Islamisten geht es nur um Terrorismus, das Ziel ist allein, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die Bürger haben einen Anspruch auf Schutz und dieser Anspruch wächst mit der Bedrohung. Niemand sieht gerne schwerbewaffnete Polizisten auf den Straßen der europäischen Großstädte patrouillieren. Aber es ist ein Teil des Kampfes, der hierzulande gegen die Terroristen geführt wird. Er wird mit den Mitteln der Polizei geführt und der Geheimdienste, aber er muss auch mit den Mitteln der Demokratie geführt werden. Auf den Straßen wie in den Köpfen. In den Vorstädten von Paris und Brüssel genauso wie in den Moscheen und Gebetshäusern von London, Berlin oder Frankfurt"
MÜNCHNER MERKUR.:
"Die Terroristen hassen unseren Lebensstil [...] Sie wollen einen Keil in unsere offene Gesellschaft treiben. Das dürfen wir nicht zulassen. Aber nicht, indem wir uns abschotten, indem wir aus offenen geschlossene Gesellschaften bilden. Im Gegenteil: Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Wir müssen dem Terror trotzen. Unsere Antwort muss lauten, dass wir unsere Werte - Demokratie, Bürgerrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit, Gleichberechtigung - leben, sie selbstbewusst vertreten und erklären"
NEUE PRESSE:
"Der 13. November wird in die Geschichte eingehen als Europas 11. September. Der Angriff der IS-Terroristen galt nicht Paris, er galt den Idealen der westlichen Welt. Die Mörder des IS haben ein Massaker angerichtet, und sie hatten dabei unsere wichtigsten Werte im Visier: die Freiheit des Einzelnen, die Toleranz und die Menschlichkeit"
DER NEUE TAG:
"Wenn ein christlicher Politiker wie Markus Söder über Twitter verbreitet, Paris ändere ’alles’, und die Tragödie für seine Forderung nach einer stärkeren Regulierung von Zuwanderung missbraucht, kann man ihm nur antworten: Paris ändert gar nichts. Jedenfalls nicht an unseren christlichen Grundwerten und am Prinzip der Nächstenliebe. Sonst hätte der Terror endgültig gewonnen"
NÜRNBERGER NACHRICHTEN:
"Dass offenbar zwei der Täter als Flüchtlinge einreisten und dafür sorgten, dass an einem Tatort ein gefälschter syrischer Pass gefunden wird, zeigt, worauf es diese Anhänger des Todes abgesehen haben: Sie schüren auch Vorurteile bis Hass gegen ’die’ Flüchtlinge. Es ist abstoßend, wenn Politiker sich darauf sogar noch einlassen und ebenfalls pauschal Ängste und Klischees schüren. Wie Markus Söder nun agiert, das ist beschämend, erst recht für einen Christsozialen, der oft genug sein Christsein herausstreicht: ’Nicht jeder Flüchtling ist ein IS-Terrorist’, sagt der Nürnberger - und rückt genau damit ’die’ Flüchtlinge in die Nähe des Terrors"
RHEINISCHE POST:
"Noch sind die Untersuchungen zum Ablauf der Anschläge von Paris nicht abgeschlossen, aber es steht bereits fest, dass auch diesmal – wie schon bei den Attentaten im Januar – Franzosen an dem Blutbad beteiligt waren. ’Hausgemachte Terroristen’ heißt das im Jargon der Spezialisten: Täter, die im Land geboren wurden, dort zur Schule gegangen sind, manchmal sogar eine Familie gegründet haben. Und die dann trotzdem in den Extremismus abgleiten. Die Integration à la française, die Einwanderern völlige Assimilierung abverlangt, ohne ihnen in Wahrheit die gleichen Chancen einzuräumen, ist gescheitert. Mit schlimmen Folgen. In Deutschland, wo wir in den kommenden Jahren eine große Zahl von Flüchtlingen integrieren müssen, sollte uns das eine Warnung sein"
SAARBRÜCKER ZEITUNG:
"Die ganze Welt hat am Wochenende in Blau-Weiß-Rot ihre Solidarität mit Frankreich gezeigt. Doch Frankreich wird mehr fordern als ein Brandenburger Tor in den Farben der Trikolore. Das Land braucht Unterstützung in seinem Kampf gegen den Terror. Unterstützung, die wohl auch mehr militärisches Engagement einschließen wird - von den USA, aber auch von Deutschland. Und die Partner können sich nicht verweigern. Schließlich geht es um die Werte der westlichen Welt: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit"
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG:
"Im Kampf gegen den IS sind Verteidigung, aber auch Angriff nötig. Verteidigen muss sich der Rechtsstaat, vor allemin Europa. Der IS wird aber nicht besiegt werden können, wenn die Auseinandersetzung nicht in sein ureigenes Machtgebiet verlegt wird. Der militärische Kampf gegen die Islamisten ist bisher halbherzig geführt worden. Russlands Eintritt in den Krieg hat eine Strategie auch nicht wirklich befördert. Von größter Bedeutung ist, dass die lokalen Volksgruppen die Befreiung von der Unterdrückung anführen. Schließlich aber ist alles nichts, wenn nicht der Katalysator für Radikale oder Fluchtwillige gestoppt wird: die Perspektivlosigkeit.Das ist die Jahrhundertaufgabe des Westens. Die islamische Welt braucht systematische und beständige Hilfe. Sie braucht Unterstützung beim Aufbau haltbarer Machtstrukturen und Volkswirtschaften. Der Islamische Staat will eine Revolution? Er sollte sie bekommen"
SÜDWEST PRESSE:
"Nein, wir leben nicht im Krieg [...] Und der 13. November darf auch nicht, wie so oft in den letzten Tagen behauptet, das Ende des Europas sein, wie wir es bisher kennen. Er muss ganz im Gegenteil der Beginn einer Neuentdeckung dieser Idee sein, die in den vergangenen Jahren zu oft im kleingeistigen Streit unterzugehen schien. Das bedeutet: Kein Zurückweichen, keine Änderung unseres Lebensstils, keine Einschränkung der Freiheit"
DIE WELT:
"Das Wort vom Krieg gegen den Islamischen Staat bedeutet, ihn an den Ort des Feindes zu tragen – und zwar nicht nur mit halbherzigen Luftschlägen, sondern unter massivem Einsatz der überlegenen westlichen Militärmaschinerie. Das schließt die Bereitschaft zum Einsatz von Bodentruppen ein. Kein Mitglied der westlichen Allianz kann sich von dieser Aufgabe ausnehmen – die Ausrufung des Nato-Bündnisfalles würde dieser Einsicht Nachdruck verleihen. Keine berechtigte Warnung vor den immensen Risiken und Kosten einer solchen Intervention führt an der Wahrheit vorbei: Nur der Westen ist in der Lage, den IS zu zerschlagen. Nur durch einen solchen Einsatz kann er auch das Heft des Handelns bei einer Neuordnung Syriens wieder in die Hand bekommen"
TAGESZEITUNG:
"Es droht eine Debatte um Einwanderung, die kriegerische Zügeträgt. Die nicht mit Waffen-, sondern mit grober Wortgewalt die Ausgrenzung vorantreibt und damit neuen Hass erzeugen wird"
4.
Was in den letzten Stunden "im deutschen Fernsehen" dazu besprochen wurde, dazu als pars pro toto der Link auf einen Artikel der WELT vom 16. November 2015, in dem an diesem Morgen über die "Talk"-Runden von Frank Plasberg, Maybrit Illner und Günther Jauch berichtet und reflektiert wird:
"Der Terror in Paris und die Kriegsfrage"
5.
Kurz nach 9 Uhr wird auf der gleichen Welle an die Gründung der UNESCO von vor 70 Jahren erinnert - und die Autorin Monika Köpcke beklagt in ihrem Text "Mit Bildung und Kultur gegen den Krieg im Geiste":
"Obwohl die UNESCO mittlerweile 195 Mitglieder hat, fehlen ihr damit bis heute ein Fünftel ihrer Beiträge. Und das zu einer Zeit, in der ihre Verfassungswerte mit Füßen getreten werden: die Zerstörung von Weltkulturerbestätten, die große Zahl der Analphabeten und der Kinder, die keine Schule besuchen, die Verletzung der Presse- und Informationsfreiheit."