Wahrheit - oder was man dafür hält

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 16. Januar 2015 um 13 Uhr 27 Minuten

 

Warum ist der Film - als Film - so erfolgreich, das Theater, das Buch?

Wahrheit ist
— nicht die Realität
(der was wir dafür halten)

Wahrheit ist
— die Interpretation
(dessen was wir sehen).

Am Sonntag gibt es die Antwort - auf einer 3sat-Sendung, in der eine TV-Sendung aus dem Schweizer Fernsehen wiederholt wird. Sie heisst: "Literaturclub" [1] , wird von Iris Radisch moderiert und hat den Neuropsychologen Lutz Jänicke zu Gast.

Im Verlauf dieser Sendung wird Lutz Jänicke von ihr befragt: In der Hoffnung, dass nun aus seinem Fachgebiet die Antworten kommen, die bisher zumeist im gedanklichen Umfeld der Philosophie gestellt worden sind.

Jänicke aber antwortet klug, mit viel verstecktem Witz und defensiver Weisheit, in dem er wiederum auf die Psychologie als die Königsdiziplin verweist.

Und er sagt jenen oben zitierten Satz auf die Frage von Frau Radisch, was denn bitteschön die "wahre Wirklichkeit" sei.

Wir lernen: Es ist offensichtlich gut, so "dumme" Fragen zu stellen, wenn man eine so kluge, ja bahnbrechende Antwort haben will.


Aus dieser Antwort entwickeln sich seitens der ebenfalls geladenen Literatur-Experten Traudl Bünger und Stefan Zweifel eine Reihe von "Aha"-Sätzen, in denen die anwesende Intelligenz neue Hoffnungen für ihre eigene Existenzberechtigung schöpft - oder zumindest für ihren Anspruch auf Qualität ihrer Wahr-Nehmungs-Fähigkeit und Neugier, auf Subjektivität und das Bemühen um Toleranz, auf Fabulierfreudigkeit und den Willen zur Wahrung und Entwicklung von Tradition und Weitsicht.

Und so ist diese Sendung auch ein Blick hinaus in "das Leben" das sich in den Büchern in Sätzen abbilden lässt, die stärker zu sein scheinen als die Abbilder, die die Lebenden von ihrer Umwelt in sich aufzunehmen gelernt haben. Denn es geht in dieser Sendung um Menschen in Büchern, die "jenseits des Normalen" leben. Und von denen der Studiogast sagt, dass es für ihn ganz normal sei, solche Menschen in seinem Institut in seiner Klinik anzutreffen. Jeden Tag erneut und jeden Tag neue Menschen, mit vergleichbaren Problemen.


Die Rede ist von einer Musikerin, die eines Tages das Notenbild ihrer Partitur nicht mehr entschlüsseln kann und seitdem gezwungen ist, alles nur noch auswendig spielen zu können - und zu müssen.

Und die Rede ist vor allem von jenen Beispielen, in der diese Menschen wie sie "aus der Not eine Tugend" gemacht haben, sich den Fehlleistungen ihres Gehirns gestellt und ihrerseits versucht haben, diesem ein Schnippchen zu schlagen.

Die Rede ist von dem US-amerikanischen Autor und Neurologen Oliver Sacks der in seinen Fallbeschreibungen nicht nur den Persönlichkeitsstörungen nachgegangen ist, sondern auch die Personen selber immer wieder neu befragt und dahingehend untersucht hat, wie sie mit diesen Fehlleistungen des Gehirns fertig werden.

Wenn überhaupt, ist dieser Autor durch den Titel seines 1985 in den USA veröffentlichen Buches "The Man Who Mistook His Wife for a Hat (1985) [2] bekannt.

Das Besondere an seiner aktuellen, jetzt auch auf Deutsch vorliegenden Publikation "The Mind’s Eye aus dem Jahr 2010 ist der Umstand, dass er dieses Mal auch über sich selbst als Patienten schreibt, schreiben muss und will: Als Jemanden, der einst sogar einem Club angehörte, der sich insbesondere den Phänomen der dreidimensionalen Wahrnehmung widmete - und der sich jetzt selbst als sehgestörten Menschen zu diagnostizieren hat.


Bevor diese Sendung begann, war der Schluss einer anderen Literatursendung zu sehen. Sie heisst "Literatur im Foyer" und wird von Thea Dorn moderiert.

Und am Schluss dieser Sendung ruft sie das Publikum dazu auf, am Abend ein Buch mit ins Bett zu nehmen: Denn ein Buch schnarche nicht. [3]

War das nun "nur" lustig oder "schon" lustfeindlich?

Hier sei die These zur Diskussion gestellt, dass eine solche Abmoderation Gefahr läuft, all das zu dis-qualifizieren, was da zuvor auch immer an Klugem und Feinsinnigem gesagt worden sein mag. Denn in einem solchen Satz - gedacht und gesagt als Empfehlung für das Leben, das in der ganzen Woche bis zum Beginn der nächsten Sendung seine Fortsetzung nehmen mag - steckt ein so unendliches Mass an Traurigkeit und Einsamkeit, dass einem ganz anders werden kann.

Ein solcher Satz ist mehr als nur ein humoristische Wendung. Er ermächtigt die Literatur als Lebens-Ersatz und ermächtigt sie vor allem dann dazu, wenn sie unter Einsatz des ganzen Lebens verfertigt wurde.

Literatur lebt!?
(Der Literaturliebhaber lebt lesend in ihr.
Doch sie überlebt ihn - vielleicht.)

Oder, um es noch schärfer - und vielleicht auch feinsinniger - zu sagen:
Die gute Literatur überlebt den guten Menschen.


Kommen wir zurück auf die unter dem Motto "Alles bleibt anders" runderneuerte "Literaturclub"-Sendung. [4].

Auch hier ist die Frage nach dem Buch auf dem Nachtisch nicht tot zu kriegen. Vielmehr wird sie einem jeweils ausgesuchten Promi in einer noch klarer doppeldeutigen Formulierung gestellt und gefragt: "Mit wem schlafen Sie? - Bettlektüretipps von [5]."

Und dann wird in illustrativen Bildern der Mensch mit seinem Buch gezeigt. Und zugehört, was sie oder er darüber zu sagen hat. Und man sieht ihn zumeist dort, wo und wie der arbeitet.

Aber nicht in seinem Schlafzimmer.


Bei aller Offenheit und Spontaneität der Diskussion: Die Rezeption dieser Sendung(en) wird überlagert von einer seltsamen Stimmung, die zeitweise selbst fast an Verzweiflung grenzt.

Das Ziel dieses Literaturcamps: Die Worte nicht als Dschungel von Sätzen, sondern als Not-Helfer und Wegweiser zur eigenen Existenz.

Schliesslich sogar der Aufruf des Literaturkritikers mit Namen Zweifel, vielleicht einmal 10 Minuten lang nur zu Schweigen, um endlich die wirklich wichtigen Themen und Dinge des Lebens im Fernsehen zur Sprache bringen zu können.

In Sendungen wie diesen wird verständlich, warum es richtig und not-wendig ist, auf anderen Sendern andere Sendungen zu machen und diese auszustrahlen. Sendungen, die nicht nach Sinn suchen wollen, sondern aus sich selbst heraus in der Lage sind, Sinn zu machen.

Auf dem ProSieben-Empfang im Ritz Carlton in Berlin stand am Freitag letzter Woche am Eingang neben dem roten Teppich ein Aufsteller mit dem Slogan: "We love to entertain you".

Die Moderatorin des Literaturclubs verabschiedet sich von ihrem Publikum mit dem Satz: "Lesen Sie wohl..."


Warum dieser Text entstanden ist: weil dieser kurze Einblick in das Bildungsfernsehen der ARD deutlich macht, wie wichtig und schön diese Beiträge sein können.

Und wie wichtig und schön es wäre, man die Zeit hätte, die sich all jene Menschen haben nehmen können, die in diesen TV-Aufzeichnungen zu sehen gewesen sind.

Da gibt es Menschen zu sehen, die unendlich viel Zeit zu haben scheinen: Zeit, zu lesen, Zeit um nachzulesen, Zeit für das Nacherleben des Gelesenen, Zeit für das Bewältigen des so Erlebten, Zeit für das Nachverfolgen des Weges, wie Wort gesucht wurden um die eigenen Gefühle zu beschreiben, Zeit darüber zu reden, Zeit darüber öffentlich zu reflektieren... und Zeit, sich diese Reflektion am Fernseher anzusehen.


Und was hat das Alles mit dem Film zu tun?

Im Verlauf der Sendung wurde einerseits der Wahrheitsbegriff ebenso brutal wie subjektiv erläutert und andererseits gezeigt, dass auch ein noch so wissenschaftliches Vorgehen in diesen Disziplinen immer wieder an die Grenzen der Wahrnehmung stösst. Grenzen, die nur jenseits dieser Disziplin(en) geöffnet werden können. Im Film [6] Und die immer wieder überwunden werden wollen, "weil der Mensch ein Mensch ist" (B.Brecht).

Von einer der in dieser Sendung besprochenen Autorinnen (Zweifel: "Sie ist ein wahrer Autor") ist zu hören, wie sie davon gesprochen/geschrieben haben soll, dass sie immer wieder eine Sehnsucht zum Ausdruck gebracht habe, die ihrer Schreibmaschine galt: Nur mittels dieser Apparatur habe sich noch für sie die Möglichkeit eröffnet, Kontakt mit der Welt aufzunehmen.

Und heute? Heute haben wir diese Möglichkeit, Produzent, Verleger und Distributor in einer Person zu sein, diesen Kontakt unmittelbar und weltweit herzustellen, ihn zumindest so anbieten zu können: hic et nunc.

So wird aus einer Ökonomie des Mangels in der Welt der digitalen (und damit verlustfreien! WS) Reproduzierbarkeit eine Ökonomie der Aufmerksamkeit entstehen - aus der Mengenlehre eine Mängellehre [7]

Wird dieses gelingen oder auch diese Herausforderung "mangels Zeit" vertan werden?


Anmerkungen

[1Zu finden unter: literaturclub.sf.tv.

[2Paperback, Touchstone Books, ISBN 0-684-85394-9

[3Das genauer Zitat lautet: "Nehmen Sie ein gutes Buch mit ins Bett - Bücher schnarchen nicht!" und es ist zu finden als Überschrift eines Artikels über die Moderatorin Thea Dorn.

[4Mehr dazu in der TV-Kritik von Martin Ebel in der Basler Zeitung vom 10. Februar 2011: "Adrenalinschub für den «Literaturclub»"

[5In diesem Fall von der Sängerin Vera Kaa

[6Und im Theater. Und dass jetzt mit den Mitteln des 3D-Films dieses Medium sich dem Theater wieder zu nähern beginnt, ist ein so spannendes Phänomen, dass dieses einer eigenen Darstellung bedarf.

[7die uns noch das Fürchten lehren und das Elend der nicht bewältigten Folgen der Digitalisierung vor Augen führen wird...


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