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Was ganz selten geschieht: eine sogenannte "Trigger-Zeile" auf dem AOL-Portal (ja, das gibt es noch!) macht mit dem Titel auf:
Verbraucherschutz: Wie lange ist eigentlich ein Gutschein gültig?
Und bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass sich hinter dieser Zeile ein Artikel aus der Welt-Online-Ausgabe vom 1. Januar 2011 befindet, der mit den Kürzeln "dapd/lw" gezeichnet ist.
Darin wird erklärt, dass auch für einen Gutschein, auf dem keine Fristen eingetragen sind, Verfallsfristen gelten. Und zwar gemäss BGB [1] spätestens nach drei Jahren - und zwar ab Ende des Jahres, in dem der Gutschein erworben wurde. Also. "Geschenkbons aus 2010 sollten bis Silvester 2013 eingelöst werden. "
Alles weitere kann in der oben als Link ausgewiesenen Stelle selber nachgelesen werden.
1.
Das Thema, dass an dieser Stelle interessiert, ist eigentlich ein weitergehendes. Warum überhaupt werden so gerne und so viele solcher Bonus-Gutscheine verschenkt, die an ein bestimmtes Geschäft gebunden sind, anstatt bares Geld.
Auch auf diese Frage findet sich ein Artikel in der Welt-Online vom 20. Dezember 2010 von Maren Martell: Die Deutschen kaufen wie verrückt Gutscheine.
Darin ist zu lesen, dass solche Gutscheine vor allem von sogenannten "Last-Minute-Shoppern" gekauft würden - und dass - angeblich - jedes zweite Geschenk, das zu Weihnachten überreicht worden ist, ein Gutschein gewesen sei.
Ob das wirklich stimmt???
Dabei beschränken sich diese Gaben nicht nur auf Einkaufsgutscheine. Allein für "Erlebniscoupons geben die Deutschen schätzungsweise eine Viertelmilliarde Euro pro Jahr aus", schreibt Frau Martell.
2.
Es ist interessant, die vielen Kommentare zu diesem Thema einzusehen. Auch wenn der sogenannte Wahrheitsgehalt der hier gemachten Aussagen durchaus in Zweifel gezogen werden mag, sollen hier drei dieser Kommentare exemplarisch vorgestellt werden.
Mit 4 positiven und 14 negativen Anmerkungen versehen:
20.12.2010,
11:08 Uhr
Familie Pieper sagt:
Das stimmt wir haben schon für über 7.000 Euro Gutscheine gekauft um diese an Weihnachten zu verschenken.
Mit mit 13 positiven und 9 negativen Anmerkungen versehen:
20.12.2010, 11:37 Uhr
Klausi sagt:
[...] wir verschenken gleich das Bargeld und es wird gern genommen.
Rein in einen Briefumschlag und schon ist alles erledigt
Mit 14 positiven und 0 negativen Anmerkungen [sic! versehen:
20.12.2010, 11:34 Uhr
nur ich sagt:
Schwierig sei es auch, wenn der Beschenkte mit seinem Gutschein in dem jeweiligen Laden überhaupt nichts findet. „Dann gibt es auch kein Geld zurück“.
Hatte zum Geburtstag einen 200EUR Gutschein von einer rot-weißen Elektromarktkette geschenkt bekommen. Da ich generell bei denen nichts kaufe und es kein Geld zurück gab, habe ich mich einfach im Laden umgeschaut, wer etwas Größeres kauft und ihn angesprochen ob er mir den Gutschein abkauft. Nach 20 Minuten war ich den Gutschein los und hatte die 200 EUR bar in der Tasche.
3.
Diese drei Zitate sind ausgesucht worden, weil - ohne Anspruch auf wissenschaftliche Belegbarkeit - daran ein Trend aufgezeigt werden soll, der weit über das hier bisher Beschriebene hinausgeht.
Es geht darum, dass in der Folge der Digitalisierung unserer Um-Welt und der darin von uns eingegangenen Beziehungen auch eine Virtualisierung des Gegenständlichen stattfindet.
Dass, was wir früher noch als realen Gegenstand eingekauft - oder auch selber hergestellt - und dann zu einem Paket verpackt haben, wird heute nur noch als Projektion dieses Gegenstandes verschenkt.
Es ist, so verrückt das klingen mag, eine Art interaktiver Darbietung. Denn der Geber kann sagen, welche Idee er/sie damit in Verbindung gebracht habe und der Nehmer kann später eigenständig darüber entscheiden, ob dieses ihm/ihr angediehene Geschenk auch so zusagt.
Die These ist also nicht nur aus den negativen Kommentaren abgeleitet, dass man sich heute keine Mühe mehr macht, noch etwas für den Anderen/die Andere zu finden, was ihm/ihr wirklich genehm ist, sondern sie hat auch eine positive Variante, danach kann der "gute Wille" demonstriert und mit einem realen Wert dokumentiert werden und zugleich im virtuellen Raum ein Dialog zwischen Geber(in) und Nehmer(in) organisiert werden, der beiden die Freiheit lässt, Wunsch und Wirklichkeit möglichst stressfrei aneinander anzupassen.
4.
Dieses Denk-Modell könnte auch erklären, warum der dritte der zitierten Kommentare von "nur ich" nur positive Wertungen bekommen hat.
Die Person hat sich nicht von der Projektion des Gebers/der Geberin befreit, sondern auch von der An-Bindung des Gutscheins an ein bestimmtes Geschäft.
Er - oder sie - hat darüber hinaus den Mut gehabt, in ein Geschäft jener Kette zu gehen, die ihm - oder ihr - grundsätzlich nicht genehm ist, und den Mut gehabt, eine fremde Person anzusprechen. Und der hat das Glück gehabt, dass diese Person dem Wunsch zur Wandlung des Gutscheins in Bargeld zu entsprechen bereit ist - und das, ohne dafür einen extra Obolus zu verlangen.
Das alles mögen nur "Kleinigkeiten" sein - und doch ist es eine Gemengelage von eben solchen Faktoren, die dazu führen, dass es zu einer solch eindeutigen positiven Bewertung einer Geschichte wie dieser kommt.
5.
Machen wir Schluss - obgleich eigentlich erst an diesem Punkt die Geschichte anfängt, spannend zu werden.
Denn an einer solchen kleinen Geschichte lässt sich wie in einem Reagenzglas herausdestilieren, was es eigentlich heisst, wenn davon die Rede ist, dass heute die Digitalisierung immer weitere Teile unseres Lebens erfasst.
Hier wird nicht nur ein Gutschein in einen Geldschein zurückverwandelt. Hier wird auch die Frage, was für einen gut sein soll, auf überzeugende Weise nach dem Motto beantwortet: "nur Bares ist Wahres".
Ware - Wunsch und Wirklichkeit: dieses Dreieck gegenseitiger Interdependenz wird in einer zunehmend digitalisierten Welt neu definiert werden müssen. Aber bevor sich die Wissenschaft dieses Themas wirklich mit überzeugenden Modellen bemächtigt haben wird, haben viele Menschen bereits für sich selbst nach Lösungen zu suchen begonnen.
Und es würde schon reichen, wenn es uns Grosskopfeten gelänge, nicht nur über "die Weisheit der Massen" oder von der Power of Crowdsourcing zu reden, sondern zu verstehen, worüber wir hier eigentlich sprechen, wenn wir auf solche Buzzwords Bezug nehmen.
Uns stehen heute so unendlich viele Möglichkeiten zur Verfügung, dem Volk aufs Maul zu schauen. Und es gibt viele kluge Strategen, die sich schon seit langem mit cleveren Programmierern umgeben haben, um in komprimierten Sentenzen die ökonomisch relevanten Resultate aus all den Dialogen in den sozialen Netzwerken zu extrahieren.
Jetzt wird es Zeit, dass auch die Intellektuellen und Multiplikatoren lernen, diese neuen Entwicklungen nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen.