Lebens-Erwerbs-Profile

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 15. Januar 2015 um 20 Uhr 39 Minuten

 

Dieser 1. Mai schlägt sich wie eine Bresche Bahn in dem verstrüppten Geschehen von Ereignissen, deren Beziehung zur Produktivität zwar nachweisbar ist, deren Bewältigung aber dennoch alles andere als ein Gefühl der Befriedigung hinterlassen hat.

Oder macht es etwa wirklich Sinn, bei seinem Laptop eine Festplatte wechseln zu müssen, um danach zu erkennen, dass die ab Werk mitgelieferte Recovery-DVD von dem Laufwerk zwar erkannt wird, dieses dann aber wegen einer fehlenden Datei nicht zum Einsatz gebracht werden kann?
Oder macht es wirklich Sinn, sich einmal mehr gegen eine andere einst hochprofitable Linzer Computerfirma durchsetzen zu müssen, deren technischer Service inzwischen so grottenschlecht ist, dass man der Firma eigentlich nur noch den Konkurs wünschen kann, damit endlich die Quälerei der Kunden-Zeit-Budgets aufhört?
Oder macht es wirklich Sinn, dass der Reparaturannahmeservice eines grossen Elektrofachmarktes nicht in der Lage ist, mit dem Hersteller einer anderen – nach weniger als zwei Jahren – fehlerhaften externen Festplatte Kontakt aufzunehmen, um von dieser die Genehmigung zu erhalten, das Garantiesigel zu öffnen (damit der Platteninhalt kopiert und dann die Platte selber gelöscht werden kann, bevor sie zur Reklamation zurückgeschickt wird) ?

Heute, am Tag der Arbeit, ist es geradezu ein Vergnügen sich hinsetzen und die eigene Lage im Spiegel „der Anderen“ nach-denken zu können. Selbst dann, wenn das Denken auch sonst ein Teil der Arbeit ist, muss ja an diesem Feier-Tag ja nicht vollständig eingestellt werden…

Und so fallen im Rückblick auf nur einen einzigen Tag viele aktuelle Erinnerungssplitter ein, in denen immer wieder das Thema „Lohn der Arbeit“ vorkommt. Und dies in einer so diversen Weise mit so unterschiedlichen Aspekten, dass das klassische Welt-Bild des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit kaum noch Chancen hat auf Wiederbelebung. Und doch, wie die Beispiele zeigen werden, auch nicht sogleich als aufgehoben aus der Welt geschafft werden kann:

  Am 30. April einigen sich die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und die Deutsche Post AG auf einen neuen Tarifvertrag. Ein Streik, für den sich weit über 90% der abstimmungsberechtigten Beschäftigten per Wahlurne abgestimmt hatten, konnte so „in letzter Minute“ abgewendet werden. Kurz vor Anbruch der Nacht zum 1. Mai wurde das ausgehandelte Angebot von der Gewerkschaftsvertretung angenommen und wird Mitte Mai erneut zur Urabstimmung den Mitgliedern vorgelegt werden. Und mit Sicherheit angenommen. Und das nicht nur wegen der sofortigen Einmalzahlung von 200 Euro an Alle, sondern auch der bis über das Jahr 2010 hinausreichenden Arbeitsplatzsicherungsgarantien.
  Am gleichen Tag ein kleiner Klönschnack mit den Mitarbeiterinnen des benachbarten Kinos. Dort wurde nunmehr eine Studentin, die zuvor an einem anderen berliner Kino ihren Vorführschein gemacht hatte, nach einer ersten Zeit der Aushilfstätigkeit als Filmvorführerin eingestellt. Mit Anspruch auf Urlaub und Sozialleistungen. Und doch zu Bedingungen, zu denen eine Familie selbst im noch relativ kostengünstigen Berlin nicht würde überleben können.
  Am gleichen Abend ein Gespräch mit dem Geschäftsführer eines grossen Fachgeschäftes für das, was einst „braune“ und auch heute noch „weisse Ware“ genannt wird. Er war zuvor Leiter einer Kaufhof-Filiale in einer anderen bundesdeutschen Grossstadt gewesen und hat das Engagement nach Berlin nicht bereut: „zuvor hatte ich 650 Mitarbeiter, während wir hier eine überschaubare Zahl von Leuten sind“, sagt er. Aber es mache ihm Freude, hier zu arbeiten und so zu arbeiten, wie er es für richtig hält: Es gäbe keine Gewerkschaften, die ihm das Leben schwer machen würden, all seine Leute würden über Tarif bezahlt und darüber hinaus bei besonderen Leistungen mit besonderen Boni ausgestattet. Und: Jeder dieser Fachmärkte sei eine eigenständige GmbH, an der auch er sich mit 10% beteiligt habe, ja beteiligen müssen; was ihm durchaus entgegengekommen sei.
  An gleichen Nachmittag auf einem der berliner Gewässer zwischen Regenschauern und Sonnenstrahlen ein langes Gespräch mit einem leitenden Mitarbeiter eines grossen internationalen Konzerns, dem man nach fast 30 Jahren Betriebszugehörigkeit einen Abschied mit 18 bezahlten Urlaubsmonaten und einem Handgeld von mehreren hunderttausend Euro angeboten habe und der sich auch an diesem letzten Tag nicht zur Annahme dieses Angebotes habe entschliessen können.
  Und bereits am Vormittag dieses Tages ein Gespräch mit einem freien Mitarbeiter, der sich in einer Auseinandersetzung mit seiner Lebensgefährtin plötzlich einer Reihe von Machenschaften ausgesetzt sieht, die unmittelbar seine Existenz gefährden. So war im kurzfristig sogar die Nummer seines Mobiltelefons gesperrt worden und damit einer der wichtigsten Kommunikationswege abgeschnitten, die gerade in so kritischen Zeiten wie diesen von geradezu existenzieller Bedeutung sein können. Also werden gemeinsam neue Revenuequellen gesucht, gefunden und ihm für die zukünftige eigene weitere Existenzsicherung zur Verfügung gestellt.
  Gegen Ende dieses Tages ein Gespräch mit der Geschäftsführerin eines mittelständischen Unternehmens, die sich nach wie vor weigert, einen ihrer Rolle angemessenen grossen Neuwagen zu fahren. Und das mit einleuchtenden Argumenten: der jetzt von ihr mit viel Liebe und Geld aufgeputzte Youngtimer würde viel mehr ihrem Naturell entsprechen, der Wagen würde sich von dem aktuellen Allerlei deutlich abheben und er habe den Vorteil, dass dadurch nicht ohne weiteres auf die Finanzkraft ihres Unternehmens Rückschlüsse gezogen werden könnten.

Alle hier dargestellten Gesprächs-Beispiele eines einzigen Tages zeigen – ohne damit die Identität der hier benannten Personen mehr als notwendig preisgegeben zu haben – in wie vielen Facetten sich die Frage nach Lohn und Broterwerb heute darstellt. Alle hier genannten Fallbeispiele sind ebenso „zufällig“ wie authentisch. Und stehen doch allesamt in einem seltsamen Widerspruch zu dem verkaufsoffenen Vor-Mai-Mittwochabend, an dem die viele der grossen Geschäfte noch auf dem spätabendlichen Nachhauseweg ihre Waren noch bis kurz vor Mitternacht dem allgemeinen Laufpublikum feilbieten: Das Ganze im Umfeld von Bierständen, Würstchenbuden und einer Strassenbühne, auf der sogar Live-Musik gespielt werden darf. Bis maximal 86 db Lautstärke.


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